Totentöchter - Die dritte Generation
sein, aber hier und jetzt will ich ihm erzählen, was mir durch den Kopf geht.
»Ich habe überlegt, ob wir es wert sind, gerettet zu werden«, sage ich.
»Wie meinst du das?«
Ich schüttele den Kopf, spüre dabei, wie mein Hinterkopf über die kalte, harte Erde rollt. »Nur so.«
»Nicht nur so. Was hast du gemeint?«, fragt er. Sein Ton ist nicht zudringlich, sondern sanft, neugierig.
»Ich dachte an all diese Ärzte und Ingenieure, die nach einem Gegenmittel suchen«, sage ich. »Jahrelang tun sie das schon. Aber lohnt es sich wirklich? Können wir überhaupt in Ordnung gebracht werden?«
Eine Zeit lang schweigt Linden und ich bin fast sicher, er verdammt mich für das, was ich gesagt habe, oder – ich weiß auch nicht – wird die Arbeit seines irren Vaters verteidigen, da drückt er meine Hand. »Dieselbe Frage habe ich mir auch schon gestellt«, sagt er.
»Wirklich?« Gleichzeitig drehen wir uns einander zu und unsere Blicke treffen sich. Als ich merke, wie meine Wangen anfangen zu glühen, schaue ich wieder in den Himmel.
»Ich dachte mal, ich würde sterben«, sagt er. »Als ich noch klein war. Ich hatte hohes Fieber. Ich weiß noch, wie mein Vater mir eine Spritze gab, die mich heilen sollte – irgendwas Experimentelles, an dem er gearbeitet hatte –, aber dadurch wurde alles nur noch schlimmer.«
Vaughn hat sicher jede Menge seiner verdrehten Experimente in die Venen seines Sohnes gepumpt. Zutrauen würde ich es ihm, aber das sage ich nicht. Linden fährt fort: »Tagelang schwebte ich irgendwo zwischen Wirklichkeit und Delirium. Alles machte mir schreckliche Angst, und ich schaffte es nicht, aus eigener Kraft aufzuwachen. Von irgendwo weit weg konnte ich meinen Vater und einige seiner Ärzte nach mir rufen hören: ›Linden. Linden, komm zu uns zurück. Mach die Augen auf!‹ Und ich erinnere mich, dass ich zögerte. Ich wusste nicht, ob ich zurückgehen sollte. Ich wusste nicht, ob ich in einer Welt leben wollte, wo ein sicherer Tod wartete und Fieber und Albträume.«
Wir schweigen lange, dann sage ich: »Aber du bist zurückgekommen.«
»Ja«, sagt er und dann ganz leise: »Aber es war nicht meine Entscheidung.«
Er flicht seine Finger zwischen meine und ich lasse ihn gewähren, spüre die feuchte Wärme unserer Handflächen aufeinander. Ein Aufwallen. Lebendig. Irgendwann geht mir auf, dass ich ihn genauso fest halte wie er mich. Da sind wir also: zwei kleine, sterbende Dinger, und mit der Welt um uns herum geht es zu Ende, wie mit den fallenden Herbstblättern.
Cecilys kleiner Bauch wölbt sich. Oft muss sie das Bett hüten, aber die Diener sagen, sie ist fordernder denn je.
Ich esse eine Eiswaffel und beobachte die Kois an einem Nachmittag, als ein Diener zu mir gerannt kommt. Er bleibt stehen und stützt seine Hände auf die Knie,
muss sich krümmen, um wieder zu Atem zu kommen. »Komm schnell«, keucht er. »Lady Cecily verlangt nach dir. Irgendein Notfall.«
»Oh, ist alles in Ordnung mit ihr?«
Wenn man ihn so sieht, könnte man glauben, jemand sei gestorben. Er schüttelt als Antwort den Kopf. Er weiß es nicht. Ich gebe ihm wohl meine Eiswaffel und renne dann auf die Tür zu. Gabriel wartet bereits am Fahrstuhl mit seiner Schlüsselkarte. Oben hetze ich in Cecilys Zimmer, denke, es wird sein wie mit Rose. Alles wird sich wiederholen. Ich denke, ich werde sie Blut hustend und nach Atem ringend vorfinden.
Sie sitzt von Kissen gestützt im Bett, hat Schaumstoffstücke zwischen den Zehen, während der Nagellack trocknet. Mit einem Strohhalm im Mund lächelt sie mich an. Sie schlürft Cranberrysaft.
»Was ist passiert?«, keuche ich.
»Erzähl mir eine Geschichte«, sagt sie.
»Was?«
»Du und Jenna – ihr habt den ganzen Spaß ohne mich«, schmollt sie.
Ihr Bauch schwebt vor ihr wie ein kleiner Viertelmond. Sie ist noch nicht weit – im vierten Monat –, aber soweit ich weiß, will Linden nicht riskieren, noch ein Kind zu verlieren. Er ergreift jede erdenkliche Vorsichtsmaßnahme. Wahrscheinlich geht es ihr gut genug, dass sie Minigolf spielen könnte oder sogar im Pool schwimmen – schließlich wird der zu dieser Jahreszeit beheizt und Blätter und Insekten werden abgeschöpft. Aber sie ist zur größten Gefangenen hier geworden.
»Was machst du den ganzen Tag?«, fragt sie.
»Wir haben jede Menge Spaß«, blaffe ich, weil sie mich grundlos beunruhigt hat. »Wir essen Zuckerwatte und machen Saltos auf dem Trampolin. Schade, dass du nicht rauskommen
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