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Totentöchter - Die dritte Generation

Totentöchter - Die dritte Generation

Titel: Totentöchter - Die dritte Generation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: cbt Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Gewandtheit und dieses Talent.
    Ich habe ihn immer für viel zu traurig gehalten, um etwas anderes zu tun, als vor Selbstmitleid zu zerfließen. Nicht alles in seiner Welt ist das, wonach es aussieht. Seine Entwürfe erregen Aufmerksamkeit. Sie sind schön und stark. Dazu gedacht, eine natürliche Lebensspanne zu bestehen, so wie das Heim, in dem ich aufgewachsen bin.
    »Ich habe viele Pläne verkauft, bevor …«, sagt er und
führt den Satz nicht zu Ende. Wir wissen beide, warum er mit dem Entwerfen aufgehört hat. Weil Rose krank wurde. »Ich habe auch die Bauaufsicht geführt. Gesehen, wie die Zeichnungen zum Leben erwachten.«
    »Warum machst du nicht weiter damit?«, frage ich.
    »Dafür ist keine Zeit.«
    »Dafür ist jede Menge Zeit.«
    Nun ja, vier Jahre. Eine magere Lebensspanne. Der Ausdruck in seinen Augen bringt mich darauf, dass ihm derselbe Gedanke gekommen ist.
    Er lächelt mich an, und ich kann nicht ergründen, was das bedeutet. Nur für eine Sekunde, glaube ich, hat er aufgeschaut und mein heterochromes Ich gesehen. Kein totes Mädchen. Nicht einmal einen Geist.
    Er hebt seine Hand zu meinem Gesicht, und ich spüre, wie seine Fingerspitzen meine Wange streifen, seine Finger strecken sich dabei wie etwas, was gerade erblüht. Er sieht ernst und milde drein. Nun ist er näher als noch vor einer Sekunde, und ich spüre, wie ich in sein Kraftfeld gezogen werde. Aus irgendeinem Grund möchte ich ihm gern vertrauen. Ich bin in seinen hausbauenden Händen und ich will ihm vertrauen. Meine Unterlippe wird ganz weich, erwartet seine Berührung.
    »Ich will deine Zeichnungen auch sehen!«, sagt Cecily.
    Meine Augen fliegen auf, ich ziehe die Hand aus Lindens Ellenbogenbeuge, wo sie irgendwie eingeklemmt war. Ich wende den Blick von ihm ab und da steht Cecily, schwanger und an einem Karamellbonbon lutschend, das ihre ganze linke Backe ausfüllt. Ich rutsche ein Stück und lasse sie zwischen uns sitzen und Linden zeigt ihr geduldig seine Entwürfe.

    Sie versteht nicht, warum das Seil der Schaukel gerissen ist oder warum ein Blumenkranz über der Eingangstür des leeren Ladens hängt. Und bald schon ist sie von der ganzen Sache gelangweilt, das merke ich, aber sie macht weiterhin Konversation über seine Entwürfe, denn nun hat sie seine Aufmerksamkeit und die gibt sie nicht wieder her.
    Ich klettere zu Jenna ins Himmelbett und ziehe den Vorhang hinter mir zu.
    »Schläfst du?«, flüstere ich.
    »Nein«, flüstert sie zurück. »Ist dir klar, dass er dich beinah geküsst hätte?«
    Wie immer hat sie beobachtet. Sie dreht sich zu mir um und mustert mich. »Vergiss nicht, wie du hierhergekommen bist«, sagt sie. »Vergiss das nicht.«
    »Nein, niemals«, sage ich.
    Aber sie hat recht.
    Für einen Augenblick hätte ich es fast vergessen.
    Ich schlafe ein und die Stimmen im Schutzkeller rücken in weite Ferne. Ich träume von allen, die ich höre. Cecily ist ein kleiner Marienkäfer in einem karierten Rock, Hausprinzipal Vaughn eine große Grille mit Augen wie eine Zeichentrickfigur. »Hör mir zu, meine Liebe«, sagt er zu ihr und wickelt seinen klebrigen Arm um ihren Panzer. »Dein Ehemann hat noch zwei andere Frauen. Deine Schwestern. Du darfst sie nicht stören.«
    »Aber!« Tränen steigen ihr in die Zeichentrickaugen, in denen sich Leid und Gereiztheit spiegeln. Sie lutscht ein Karamellbonbon.
    »Aber, aber«, sagt er. »Eifersucht macht sich gar nicht gut auf deinem hübschen Gesicht. Was hältst du davon,
mit deinem Schwiegervater ein wenig Schach zu spielen?«
    Sie ist sein Schoßhund. Sein schwangerer, treuer kleiner Schoßhund.
    Läufer auf F5. Bauer auf E3.
    Draußen heult der Wind und immer wieder höre ich die Worte: Eher friert die Hölle ein …
    Die Hölle friert ein …

Das Haus wird nicht weggeweht. Abgesehen von ein paar umgestürzten Bäumen kehrt die Welt zur Normalität zurück.
    Gabriel findet mich in einem Blätterhaufen. Ich spüre seine Gegenwart über mir und schlage die Augen auf. Er hält eine Thermoskanne. »Ich bringe dir heißen Kakao«, sagt er. »Deine Nase ist ganz rot.«
    »Deine Finger auch«, sage ich. Rot wie die fallenden Blätter. Sein Atem wird zu kleinen Wölkchen. Zwischen so viel Herbst leuchten seine Augen sehr blau.
    »Da ist ein Käfer«, sagt er und deutet auf meinen Kopf. Ich entdecke ein kleines geflügeltes Ding, das in meinen Haaren krabbelt. Ich puste sachte und es ist weg.
    »Ich bin froh, dass du nicht weggeweht worden bist«, sage ich, und wie ich

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