Totentöchter - Die dritte Generation
aus der Dunkelheit, in der Rose ihn zurückgelassen hat, siehst du das nicht? Du gibst ihm sein Leben zurück. Er wird wieder Erfolg haben und du wirst ihn zu jeder Party begleiten. Du wirst alles haben, wovon du träumst, viele, viele Jahre lang.«
Ich weiß nicht, warum er mir das alles erzählt, aber langsam verursacht seine Gegenwart mir Übelkeit. Ist das ein besorgter Vater, der nur seinen Sohn behütet? Oder ist er irgendwie hinter meine Absicht gekommen, zu fliehen? Er sieht mir direkt in die Augen und ich kann ihn nicht durchschauen. Er wirkt weniger bedrohlich als sonst.
»Verstehst du, was ich sage?«, fragt er.
»Ja«, sage ich. »Das tue ich.«
Nachdem unsere Eltern gestorben waren, hatten wir
eine Rattenplage im Keller. Sie kamen aus der Kanalisation, nagten unsere Gitter durch und vernichteten unser Essen. Für die Fallen, die wir aufstellten, waren sie zu schlau, und deshalb kam Rowan auf die Idee, sie zu vergiften. Er mischte Mehl, Zucker, Wasser und Natron und kleckste Häufchen davon auf den Fußboden. Ich hatte nicht für möglich gehalten, dass es funktionieren würde, aber das tat es. Nachts während meiner Wache sah ich eine Ratte merkwürdig im Kreis herumlaufen und dann umfallen. Ich konnte ihr leises Wimmern hören und sie zittern sehen. Das ging so über Stunden, jedenfalls schienen es mir Stunden zu sein, bevor sie starb. Rowans Experiment war ein grauenhafter Erfolg.
Hausprinzipal Vaughn lässt mir die Wahl. Ich kann hier in diesem Haus leben, in dem er auf der Suche nach einem Gegenmittel – das nicht existiert – Lindens tote Frau und ihr Kind seziert. Ich kann hier in vier Jahren sterben und unsere Körper werden alle für Experimente benutzt. Aber vier kurze Jahre lang bin ich die umwerfende Ehefrau auf noblen Partys und das wird mein Lohn sein. Ich werde trotzdem sterben wie diese Ratte – unter Qualen.
Den Rest des Tages denke ich über Vaughns Worte nach. Beim Abendessen lächelt er mich über den Tisch hinweg an. Ich denke an die tote Ratte.
Aber als es Nacht wird, verdränge ich Vaughns bedrohliche Stimme aus meinem Kopf. Neuerdings habe ich mir vorgenommen, sobald ich im Bett liege, nur noch an zu Hause zu denken – wie ich wieder zurückkomme und wie es dort aussieht. Wie mein Leben gewesen ist, bevor ich hierherkam.
Keiner aus diesem herrschaftlichen Haus darf in diesen Gedanken vorkommen, es sei denn, ich rufe mir ins Gedächtnis, dass Linden trotz seiner sanften Art der Feind ist. Er hat mich meinem Zwilling geraubt, er hat mich aus meinem Zuhause geraubt und behalten wie sein Eigentum.
Nachts, wenn ich allein bin, denke ich also an meinen Bruder, der seit unserer Kinderzeit die Angewohnheit hat, sich vor mich zu stellen, als müsse jede schreckliche Gefahr erst einmal ihn treffen, bevor sie mich erreichen kann. Ich denke daran, wie er mich ansah, mit dem Gewehr in der Hand, als er diesen Sammler erschossen und mein Leben gerettet hat – an das Entsetzen in seinem Blick, bei der Vorstellung, mich zu verlieren. Ich denke daran, dass wir immer zusammengehört haben, dass unsere Mutter unsere kleinen Hände ineinandergelegt und uns gesagt hat, wir sollten uns festhalten.
Nacht für Nacht konstruiere ich diese Gedanken, wenn ich am einsamsten bin, in diesem Haus der Ehefrauen und Diener, und für ein paar Stunden bin ich in der Lage, mich aus diesem falschen Leben zu lösen. Ganz gleich, wie einsam es mich macht, und ganz gleich, wie abgrundtief und grauenhaft diese Einsamkeit ist – zumindest erinnere ich mich daran, wer ich bin.
Und dann, eines Nachts, gerade als mein Bewusstsein mit dem Schlaf verschmelzen will, höre ich, wie Linden nach dem Betreten meines Zimmers die Tür hinter sich schließt. Doch er ist Tausende von Meilen von mir entfernt. Ich bin bei Rowan und wickele die Drachenschnur auf. Das unbeschwerte Lachen meiner Mutter erfüllt den Raum und mein Vater spielt eine Mozart-Sonate in
G-Dur auf dem Klavier. Rowan rollt ganz lässig die Schnur ab, die sich um meine Finger geschlungen hat, und er fragt mich, ob ich noch lebe. Ich versuche zu lachen, als wäre das, was er gesagt hat, verrückt, aber es kommt kein Laut über meine Lippen und er will den Blick nicht auf mich richten.
Ich werde nicht aufhören, dich zu suchen, sagt er. Ich werde nie aufhören, und wenn es mich umbringt, ich werde dich finden.
»Ich bin doch hier«, sage ich.
»Du träumst«, sagt er. Aber die Stimme gehört nicht meinem Bruder. Linden hat sein Gesicht an
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