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Totentöchter - Die dritte Generation

Totentöchter - Die dritte Generation

Titel: Totentöchter - Die dritte Generation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: cbt Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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schickt in regelmäßigen Abständen sein Licht zwischen die Bäume. Wenn ich schon nicht entkommen kann, will ich zumindest neben dem Leuchtturm sterben. Näher kann ich meinem Zuhause an diesem schrecklichen, schrecklichen Ort nicht kommen.
    Gehen ist unmöglich geworden. Zu viele Sachen fliegen herum, und ich bin fest davon überzeugt, ich könnte weggeweht werden. Deshalb krieche ich. Um vorwärtszukommen, ramme ich meine Ellenbogen und Zehen in den Kunstrasen auf dem Golfplatz. Ich entferne mich von dem Ort, an dem mein Name gerufen wird, entferne mich von der immer noch heulenden Sirene und von einem stechenden Schmerz, der mich plötzlich irgendwo trifft. Ich sehe nicht nach, was ich für eine Verletzung habe, aber da ist Blut. Ich kann es schmecken. Ich fühle, wie es quillt und tropft. Doch das ist mir egal, solange ich nicht gelähmt bin. Ich kann weiterrobben und ich tu es, bis ich den Leuchtturm berühre.
    Die Farbe ist abgeplatzt, das Holz rissig. Obwohl ich mein Ziel erreicht habe, sagt mir irgendetwas an diesem wunderbaren kleinen Gebäude, dass ich noch nicht bereit
bin, zu sterben. Dass ich weitermachen soll. Aber wohin soll ich? Meine Hände tasten verzweifelt nach einer Lösung, nach einem Pfad ins Licht.
    Ich klammere mich an eine Leiter. Keine, die zum Hochsteigen gedacht ist. Eindeutig dient sie nur der Dekoration. Sie ist nicht stabil und am Leuchtturm nur festgenagelt. Aber man kann hinaufklettern und mein Körper ist in der Lage dazu, also mache ich es. Immer weiter nach oben.
    Meine Hände bluten jetzt auch. Irgendetwas tropft mir in die Augen und brennt. Wieder nimmt der Sturm mir die Luft. Immer weiter nach oben.
    Es kommt mir vor, als würde ich schon ewig klettern. Die ganze Nacht. Mein ganzes Leben. Aber ich gelange an die Spitze und das Licht begrüßt mich, wobei es mich blendet. Ich wende mich ab.
    Beinahe stürze ich.
    Ich bin höher als sämtliche Bäume.
    Und ich sehe es, weit, weit weg in der Ferne. Wie ein Flüstern. Wie ein schüchterner kleiner Vorschlag. Die spitze Blüte von Gabriels Taschentuch, angebracht an einem eisernen Tor.
    Das ist der Ausgang, Meilen von hier.
    Das ist das Ende der Welt.
    Und ich begreife, was der Leuchtturm mir sagen wollte. Dass ich heute nicht sterben werde. Dass ich diesem Weg folgen soll, den er mir leuchtet – wie Columbus mit seiner Niña, Pinta und Santa Maria – bis ans Ende der Welt.
    Das Tor in der Ferne ist das Schönste, was ich je im Leben gesehen habe.

    Ich mache mich gerade daran, hinunterzuklettern, als ich wieder meinen Namen höre. Dieses Mal zu laut und zu nahe, um es zu ignorieren.
    »Rhine!«
    Gabriels blaue Augen, sein glänzend braunes Haar und seine Arme, die so viel stärker sind als Lindens, kommen auf mich zu. Nicht alles an ihm, kein ganzer Körper, eher Teile von ihm, die verschwinden und im Wind zucken. Ich sehe das wilde, wütende Rot seines geöffneten Mundes.
    »Ich verschwinde von hier!«, schreie ich. »Komm mit! Lauf mit mir weg!«
    Aber er sagt nur: »Rhine! Rhine!«, mit wachsender Verzweiflung. Ich glaube, er hört gar nicht, was ich sage. Er hält die Arme auf. Ich verstehe nicht, warum. Ich verstehe nicht, was er mir zubrüllt, bis ein unglaublicher Schmerz auf meinen Hinterkopf schmettert und ich ihm in die offenen Arme falle.

Die Luft regt sich nicht. Es ist still. Ich kann atmen, ohne dass der Wind mir den Atem raubt. Es ist steril und antiseptisch. »Nicht«, sage ich oder versuche es zu sagen. Die Augen kann ich nicht öffnen. Vaughn ist hier. Ich spüre seine Gegenwart. Ich rieche sein kaltes Skalpell. Er wird mich aufschneiden.
    Etwas Warmes durchströmt mein Blut. Ich spüre, wie mein Herz mit lauten, aufdringlichen Pieptönen schlägt.
     
    Er fragt, ob ich die Augen aufmachen kann.
    Doch es ist der Duft von Tee, der mich wirklich weckt. Obwohl mir irgendetwas sagt, dass das nicht stimmt, denke ich, Rowan ist hier und weckt mich mit einer Tasse Earl Grey zu meiner Schicht. Stattdessen blicken mich Lindens aufmerksame grüne Augen an. Seine Lippen sehen röter aus, aufgerissen, blutig. Seltsame blaurote Striemen bedecken kreisförmig sein Gesicht und den Hals. Meine Hand liegt zwischen seinen beiden Händen, und es tut weh, wenn er sie drückt.
    »Ein Glück«, sagt er, verbirgt sein Gesicht an meiner Schulter und ein Schluchzen schüttelt ihn. »Du bist wach.«

    Ich übergebe mich und würge immer noch, während die Welt wieder schwarz wird.
     
    Viele, viele Jahre später öffne ich die Augen.

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