Totentöchter - Die dritte Generation
Der Wind heult immer noch wie die Toten. Er hämmert gegen mein Schlafzimmerfenster, will einbrechen, mich rauben. Ich halte Ausschau nach dem Licht des Leuchtturms, kann es aber nicht sehen.
Linden schläft neben mir, sein Kopf liegt auf demselben Kissen wie meiner. Leise schnaufend atmet er mir ins Ohr. Das war der heulende Wind in meinen Träumen, begreife ich.
Während ich daliege und zu mir komme, wird mir klar, dass doch nicht Jahre vergangen sind. Sein Gesicht ist noch immer glatt und jung, wenn auch ziemlich zerschrammt, und ich trage immer noch seinen Ehering, bin immer noch in diesem jahrhundertealten herrschaftlichen Haus, das niemals weggeweht werden wird.
Aber es sind auch neue, merkwürdige Dinge wahrzunehmen. In meinem Unterarm steckt eine Nadel, die mit einem an einem Metallgestell hängenden Beutel voll Flüssigkeit verbunden ist. Ein Monitor zeigt die Frequenz meines Pulsschlages an. Ruhig und gleichmäßig.
Ich versuche mich aufzusetzen, Schmerz bohrt sich in jede Rippe, einer nach der anderen. Ich komme mir vor wie ein Xylofon, das beim Spielen zerbricht. Eins meiner Beine wird mit einer Art Schlinge hochgehalten.
Linden spürt, wie ich mich neben ihm rege, und gibt beim Aufwachen murmelnde Geräusche von sich. Ich schließe die Augen und stelle mich schlafend. Ich will ihn
nicht sehen. Es ist schon schlimm genug, dass ich ihn den Rest meines Lebens täglich sehen muss.
Denn ganz egal, wo ich hingehe oder wie sehr ich mich anstrenge, ich werde immer wieder genau hier landen.
Als ich nicht länger im Koma bleiben kann, reißt der Besucherstrom in meinem Zimmer nicht mehr ab. Linden ist immer an meiner Seite, schüttelt mein Kissen auf, arbeitet an seinen Entwürfen und liest mir Bücher aus der Bibliothek vor. Frankenstein kommt mir geradezu unheimlich ironisch vor. Deidre, Jenna und Cecily sind kaum mehr als ein paar Sekunden bei mir, da erzählt Linden ihnen schon, dass ich Ruhe brauche. Hausprinzipal Vaughn, der Arzt, der besorgte Schwiegervater, gibt mir eine Aufstellung dessen, was ich mir verletzt, verstaucht oder gebrochen habe. »Du hast dich wirklich übel zugerichtet, Liebling, aber du bist in den besten Händen«, sagt er. In meinem Medikamentendelirium hat er sich in eine Art sprechende Schlange verwandelt. Mein linkes Fußgelenk werde ich vermutlich mindestens zwei Wochen nicht belasten können, sagt er, und beim Atmen werde ich noch eine Weile Schmerzen haben. Mir ist das egal. Es spielt keine Rolle. Ich habe den Rest meines Lebens Zeit, in diesem elenden Raum zu liegen und mich zu erholen.
Zeit hat jegliche Bedeutung verloren. Ich weiß nicht, wie lange ich schon in diesem Bett liege. Ich gleite immer wieder in die Bewusstlosigkeit und jedes Mal wenn ich die Augen öffne, erwartet mich etwas Neues. Linden liest mir vor. Meine Schwesterfrauen stehen aneinandergedrängt an der Tür und runzeln besorgt die Stirn über meinen Zustand. Ich starre sie an, bis das Stirnrunzeln
auf ihren Gesichtern sich auflöst und ihre Augen schwarz werden. Überall Schmerzen und zuoberst eine dumpfe Benommenheit.
»Das muss ich zugeben, ein Hurrikan ist extremer als ein Lüftungsschacht.« Vaughns Stimme schwebt über mir. Ich bemühe mich, die Augen zu öffnen, aber ich kann nur einen Farbklecks erkennen. Sein glatt zurückgekämmtes dunkles Haar. Durch meine Venen schießt etwas Warmes und ich erschauere vor Erleichterung, als der Schmerz in meinen Rippen verschwindet. »Wusstest du, dass deine tote Schwesterfrau es damit versucht hat? Mit den Lüftungsschächten! Und es ist ihr gelungen, durch so einen Schacht bis hinunter in den Hausflur zu gelangen, bevor sie entdeckt wurde. Was war sie nur für ein schlaues kleines Mädchen. Damals war sie erst elf.«
Rose … Der Name will meine Lippen nicht erreichen.
Ich spüre, wie Vaughns papierene Hand über meine Stirn streicht, aber ich kann die Augen nicht mehr öffnen. Sein heißer Atem wirbelt mir seine hallenden Worte ins Ohr. »Natürlich konnte man dem Mädchen keinen Vorwurf machen, schließlich war sie so erzogen worden. Ihre Eltern waren Kollegen von mir, hoch angesehene Chirurgen übrigens. Doch dann haben sie den Verstand verloren. Sie reisten von einem Staat in den anderen und verbreiteten abwegige Gerüchte, dass es, falls es uns nicht gelingen sollte, ein Gegenmittel zu finden, irgendwo dort draußen in dieser Einöde aus Wasser ein überlebendes Land geben müsse, wo wir Hilfe finden würden. Sie lehrten sie alles über die
Weitere Kostenlose Bücher