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Totentöchter - Die dritte Generation

Totentöchter - Die dritte Generation

Titel: Totentöchter - Die dritte Generation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: cbt Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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zu wahren.« Er schaut weg, auf den Verkehr vor dem Fenster, und sieht aus, als bereue er, was er gesagt hat.
    Ich lege ihm die Hand aufs Knie und sage sanft: »Schon gut. Was hat sie noch getan?«

    Er schürzt die Lippen und wagt einen Blick zu mir hinüber. »Sie hat über alles gelacht, was die Leute gesagt haben, und sie hat ihnen in die Augen geschaut, wenn sie redeten. Und sie hat immer gelächelt. Am Ende des Abends, wenn wir unter uns waren, hat sie gesagt, ihre Wangen würden wehtun vom vielen Lächeln.«
    Lächele! Wirke interessiert! Tu so, als ob du trinkst! Und leuchte wie ein Stern, füge ich der Liste hinzu, denn auch das scheint Rose getan zu haben. Als wir uns unserem Ziel nähern, spüre ich, wie ich ihre Welt betrete. Ich fühle mich wie ihr Ersatz. Genau das hat sie bei unserer ersten Begegnung gesagt und damals hatte ich es nicht glauben wollen. Aber jetzt, in der Wärme der Ledersitze und mit dem süßen Duft von Lindens Aftershave in der Nase, kommt es mir gar nicht so schlecht vor, ihr Ersatz zu sein. Obwohl es natürlich nur vorübergehend ist.
    Ich brauche einen Moment, um mir ins Gedächtnis zu rufen, dass die pulsierende Stadt da draußen nicht meine Stadt ist, dass diese Leute Fremde sind. Dass mein Bruder nicht hier ist. Er ist irgendwo allein und wartet auf mich. Solange ich weg bin, hält niemand Wache, wenn er schläft. Der Gedanke lässt den Champagner in meinem Bauch wie eine bittere Welle hochschwappen, doch bevor ich mich übergeben muss, zwinge ich mich, mich zu beruhigen. Ich werde nur zu ihm zurückkehren können, wenn ich diese Sache durchziehe – wie lange es auch dauern mag.
    Wir fahren an einem hohen weißen Gebäude mit einer großen Samtschleife über den Doppeltüren vor. Beim Aussteigen aus der Limousine entdecke ich dieselben
Samtschleifen an Straßenlaternen und Geschäftsfassaden. Ein verkleideter Weihnachtsmann läutet eine Glocke, während Leute Geld in den roten Eimer zu seinen Füßen werfen.
    »Dieses Jahr hat man früh mit den Vorbereitungen für die Wintersonnenwende begonnen«, sagt Linden beiläufig.
    Ich habe das letzte Mal mit zwölf eine Sonnenwende gefeiert. Geld für Geschenke auszugeben und Zeit mit dem Schmücken zu verschwenden, fand Rowan völlig unnütz. Als wir Kinder waren, schmückten unsere Eltern das Haus immer mit roten Schleifen und Pappschneemännern und den ganzen Dezember duftete es in der Küche aus dem Backofen wunderbar süß. Mein Vater hat Klavierstücke aus einem jahrhundertealten Notenheft mit dem Titel Weihnachtsklassiker gespielt, auch wenn schon vor seiner Geburt niemand mehr von Weihnachten gesprochen hat. Und am Tag der Sonnenwende, dem kürzesten des Jahres, haben unser Eltern uns Geschenke gegeben. Meistens Sachen, die sie selbst gemacht hatten – meine Mutter war eine hervorragende Schneiderin und mein Vater konnte aus Holz einfach alles machen.
    Mit ihnen ist unsere kleine Tradition gestorben. Für meinen Bruder und mich war Winter dann nichts weiter als die Jahreszeit, in der es mit den Bettlern in Manhattan am schlimmsten war. Wir hatten um diese Zeit herum bereits immer die Fenster mit Brettern vernagelt, damit Waisen gar nicht erst auf die Idee kämen, sie könnten bei uns Schutz vor der windigen Kälte finden. Die Kälte bei uns war furchtbar und unerbittlich. Der Schnee häufte sich bis zu unserem Türknauf, und manchmal standen
wir im Morgengrauen auf und schaufelten uns unseren Weg in die Freiheit, damit wir zur Arbeit gehen konnten. Wir rückten das Feldbett näher an den Ofen und sahen trotzdem den Atem vor unseren Gesichtern.
    »Reg dich nicht auf, wenn sie dir alle die Hand küssen wollen«, flüstert Linden mir ins Ohr, als er meinen Arm nimmt und wir die Treppe hinaufsteigen.
    Da Linden diese Messen als trocken und langweilig beschrieben hat, habe ich nicht viel davon erwartet. Doch drinnen treffen wir auf eine große, gut gekleidete Menge. Im ganzen Raum schweben Hologramme mit Bildern von Häusern, die sich drehen und wenden. Fenster gehen auf, man wird mit hineingenommen und besichtigt die Räume. Architekten stehen neben ihren Hologrammen, begierig darauf, sie jedem zu erklären, der zuhören will. Sogar die Wände und die Decke des Messeraums geben die beeindruckende Illusion eines blauen Himmels mit dahintreibenden Wolken wieder. Der Fußboden sieht aus wie wogendes Gras mit lauter Wiesenblumen, und ich muss mich einfach bücken und den Boden berühren, um nachzuprüfen, ob das Gras nicht

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