Totentöchter - Die dritte Generation
ahnst, Linden. Aber ich sage nur: »Ich möchte so viele andere Dinge mit dir erleben. Ich will ausgehen. Ich will deine Entwürfe verwirklicht sehen. Ich will … Ich will auf eine Wintersonnwendparty gehen. So etwas muss doch jetzt anstehen.«
Die romantischen Gefühle verschwinden aus seinem Gesicht. Verwirrung oder Enttäuschung – ich kann nicht sagen, was – tritt an ihre Stelle. »Nun ja, wahrscheinlich gibt es welche. Die Sonnenwende ist nächste Woche …«
»Können wir nicht hingehen?«, sage ich. »Deidre hat so viele wunderschöne Stoffe und so selten Gelegenheit, mir ein neues Kleid zu nähen.«
»Wenn es dich glücklich macht.«
»Ja«, sage ich und küsse ihn. »Du wirst schon sehen. Aus dem Haus zu kommen, wird uns beiden guttun.«
Er sieht allerdings unglücklich aus, deshalb gebe ich nach, setze mich ganz dicht neben ihn und lasse ihn seinen Arm um mich legen. Er liebt mich, sagt er, aber wie kann er das, wo wir nur so wenig voneinander wissen? Ich gebe zu, es ist leicht, sich dieser Illusion hinzugeben. Ich gebe zu, dass es sich hier mit ihm – vor dem wunderschönen Mond, in seine Wärme gehüllt – anfühlt wie Liebe. Ein kleines bisschen. Vielleicht.
»Du bist nur so aufgekratzt«, versichere ich ihm. »Du hast einen tollen kleinen Sohn und der wird reichen, dich glücklich zu machen. Du wirst schon sehen.«
Er küsst mein Haar. »Vielleicht hast du recht«, sagt er.
Doch obwohl er versucht, mir zuzustimmen, weiß ich, dass ich nicht recht habe. Ich weiß, es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich nicht mehr in der Lage sein werde, seine rastlosen Annäherungsversuche abzuwehren, ohne dass er Verdacht schöpft. Ganz gleich, wie ich auch plane, zu fliehen, es muss bald sein.
In Gabriels Abwesenheit bringt uns der nervöse Erstgenerationer alle unsere Mahlzeiten. Jenna und ich essen
zur selben Zeit in der Bibliothek zu Mittag, aber verglichen mit der Aufmerksamkeit, die ich von ihm bekomme, ist sie praktisch unsichtbar.
»Ich hoffe, Sie genießen Ihr Mittagessen«, sagt der Diener zu mir und hebt die Haube vom Teller. »Cäsarsalat mit gegrilltem Hähnchen. Wenn Sie das nicht mögen, wird die Chefköchin Ihnen gern zubereiten, was Sie wünschen.«
»Das sieht köstlich aus«, versichere ich ihm. »Ich bin nicht so wählerisch.«
»Das wollte ich nicht unterstellen, Lady Rhine. Keineswegs. Guten Appetit.«
Jenna grinst ihren Teller an.
Nachdem der Diener den Raum verlassen hat, sage ich: »Hast du das gesehen? Und das war noch gar nichts. Heute Morgen hat mich eine Dienerin gefragt, ob sie mir das Haar bürsten soll. Hier geht irgendwas Seltsames vor sich.«
»Das ist nicht seltsam«, Jenna nimmt eine Gabel voll Salat, »bei einer Ersten Ehefrau.«
»Und das wissen sie – wegen der Schlüsselkarte?«, sage ich.
»Deswegen«, sagt sie. »Und wegen anderer Dinge.« Sie hebt ihr Glas und stößt damit an meines. »Glückwunsch, Schwesterfrau.«
Ich antworte mit einem bittersüßen: »Danke.«
Während sämtliche Diener sich um jedes meiner Bedürfnisse kümmern, macht mir die Bedeutung dieser Schlüsselkarte Sorgen. Zuerst hatte ich gedacht, sie würde mehr Freiheit bedeuten, aber inzwischen frage ich mich, ob Vaughn nicht einen viel teuflischeren Plan ausgeheckt
hat. Denn bei derartig viel Beachtung ist es schwierig für mich geworden, eine Minute für mich allein zu haben. Ich darf mich draußen aufhalten, wann immer ich mag, aber oft stören mich Diener, die mir Becher mit heißem Kakao oder Tee bringen. Im Laufe der Nacht kommen sie zwei, drei, vier Mal in mein Zimmer und fragen, ob ich extra Kissen brauche oder ob es durchs Fenster zieht.
Mir drängt sich der Gedanke auf, dass Vaughn mir die Schlüsselkarte nur zugestanden hat, damit seine Bediensteten mich in Freundlichkeit ersticken können. Vielleicht hat er sogar Gabriel versteckt, um mich zu verhöhnen.
Und jetzt kann ich zwar alle möglichen Wege nehmen, doch keiner führt mich zu Gabriel. Ich weiß, ich hätte ihn suchen sollen, als Cecilys Wehen für Ablenkung sorgten. Jenna hat mir das seitdem so oft gesagt. Aber ich konnte mich nicht dazu durchringen, sie zu verlassen.
Ich mache mir immer noch Sorgen um sie. Sie und ihr Sohn haben die Geburt überlebt, aber seitdem ist sie sehr erschöpft. Ihr Zimmer wird dunkel und warm gehalten, es riecht nach Medikamenten und ganz schwach nach Vaughns Keller. Im Schlaf murmelt sie etwas von Musik und Drachen und Hurrikans. Sie hat zu viel Blut verloren. Das ist
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