Totentöchter - Die dritte Generation
tot. Tot. Das Wort dröhnt durch meinen Schädel wie der Feuer- und der Sturmalarm, und mir wird klar, dass ich vor allem das befürchtet hatte. Ich schlinge meine Arme um ihn, völlig unbeholfen, der Helm ist im Weg, aber das ist mir egal. Ich spüre, wie seine kräftigen Arme mich umfangen – und alles andere ist mir egal.
Vorsichtig zieht er mir den Helm vom Kopf. Geräusche der Welt und nicht nur meine eigene Atmung dringen an meine Ohren. Er lacht ein bisschen. Der Helm fällt runter. Er drückt mich.
»Was machst du denn hier?«, sagt er.
»Ich dachte, du wärst tot«, sage ich in sein Hemd. »Ich dachte, du wärst tot, ich dachte, du wärst tot.«
Es fühlt sich gut an, die Worte zu sagen. Sie loszuwerden. Zu wissen, dass sie nicht wahr sind. Er kann die Angst aus mir herausströmen hören. Und seine Hand fährt mir über den Rücken, die Wirbelsäule entlang und wühlt sich in mein Haar und hält meinen Kopf. Hält mich fest. Und so bleibt es eine Zeit lang.
Als wir uns voneinander lösen, streicht er mir das Haar aus den Augen und starrt mich an. »Was ist mit dir passiert?«, fragt er.
»Was? Mir geht es gut.«
»Deine Augen?«
»Kontaktlinsen. Ich wollte nicht erkannt werden, falls mir jemand begegnet und … Was ist mit dir?«, rufe ich,
als mir wieder einfällt, in welcher Lage wir uns befinden. »Ich habe dich seit Tagen nicht gesehen.«
Er drückt mir einen Finger auf die Lippen, damit ich leise bin, dann führt er mich in einen der grauenhaft dunklen Räume. Einen der Orte, die ich am meisten fürchte. Aber er ist bei mir, und ich weiß, es wird gut gehen. Er macht kein Licht. Ich kann kaltes Metall riechen und höre Wasser, das auf eine harte Oberfläche tropft. In der absoluten Dunkelheit halte ich seine beiden Hände und versuche seine Umrisse zu erkennen.
»Hör zu«, flüstert er. »Du darfst nicht hier unten sein. Der Hausprinzipal weiß alles. Er weiß von dem Kuss. Er weiß, dass du versucht hast, wegzulaufen. Wenn er uns zusammen erwischt, bin ich hier weg.«
»Wird er dich rauswerfen?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich hab das Gefühl, dass ein Leichensack ins Spiel kommen könnte.«
Natürlich. Wie dumm von mir. Keiner verlässt diesen Ort lebend. Ehrlich gesagt bin ich fast überzeugt davon, dass auch niemand diesen Ort verlässt, wenn er tot ist. Ein Körper mehr, den Vaughn sezieren kann. War es das, wovor Jenna mich hatte warnen wollen? Ich stelle mir meine Augen in einem Gefäß in Vaughns Labor vor und mit zusammengepressten Lippen kämpfe ich gegen eine Welle der Übelkeit. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass all das eine von Vaughns Fallen ist – die Schlüsselkarte, Gabriel in den Keller zu stecken, wo er sicher sein kann, dass ich ihn suchen werde. Er könnte hinter einer Ecke lauern, darauf warten, mich in einen dieser Räume zu sperren. Der Gedanke bringt meinen Puls dazu, gegen meine Schläfen zu hämmern, aber Gabriels Gegenwart
überwältigt meine Angst. Ich hätte niemals damit leben können, wenn ich nicht versucht hätte, ihn zu finden.
»Wie?«, sage ich. »Wie kann er das wissen?«
»Weiß ich nicht, aber er darf uns nicht zusammen sehen. Rhine, das ist gefährlich.«
»Lauf mit mir weg«, sage ich.
»Rhine, hör zu, wir können nicht …«
»Ich habe einen Weg hier raus gefunden«, sage ich, packe seine Hand und führe sie zu der Schlüsselkarte, die mir um den Hals baumelt. »Linden hat mir die Erlaubnis gegeben, den Fahrstuhl zu benutzen. Und ich habe einen Weg nach draußen gefunden. Zwischen den Bäumen, die das Grundstück säumen, ist eine Lücke. Einige Bäume sind nicht echt. Es sind Hologramme.«
Er schweigt und in der Dunkelheit ist das das Gleiche, wie zu verschwinden.
Ich greife nach seinem Hemd. »Bist du noch da?«
»Ich bin hier«, sagt er.
Wieder schweigt er und ich lausche auf seine Atemzüge. Ich höre, wie seine Lippen sich öffnen und er den Bruchteil einer Silbe von sich gibt. Und ich weiß, ich weiß es einfach, dass er mir jetzt mit Logik kommen wird, und das nützt mir nichts, wenn ich hier wegwill, bevor ich sterbe, deshalb küsse ich ihn.
Die Tür ist schon geschlossen. Abgekapselt in dieser Dunkelheit ist es fast so, als wären wir gar nicht im Keller. Wir sind auf dem grenzenlosen Ozean, kein Kontinent in Sicht und niemand, der uns fangen kann. Wir sind frei. Seine Hände sind in meinem Haar, hinter meinem Kopf, fahren an meinem Körper entlang. Der Schutzanzug
knistert, protokolliert hörbar Gabriels
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