Totentöchter - Die dritte Generation
Berührungen.
Immer wieder will er sich losmachen, bringt ein: »Aber …«, oder: »Nun hör doch …«, oder: »Rhine …«, hervor, doch ich stoppe ihn jedes Mal und er gibt auf, und ich möchte, dass dieser Augenblick ewig dauert. Ich wünsche mir den Ehering an meinem Finger weg. Ich wünsche uns beiden die Freiheit.
Bis wir uns schließlich voneinander lösen und ich spüre, wie sich seine Stirn an meine drückt. Er sagt: »Rhine. Das ist zu gefährlich. Der Hausprinzipal wird alles tun, um seinen Sohn zu beschützen. Wenn er dich beim Weglaufen erwischt, ermordet er dich und lässt es aussehen wie einen Unfall.«
»Das ist weit hergeholt, sogar für ihn«, sage ich.
»Ich würde es ihm zutrauen«, sagt er. »Sein Sohn ist alles, was er hat. Dich und deine Schwesterfrauen hat er nur zu seinem Trost herbringen lassen, weil Lady Rose im Sterben lag. Glaub nur nicht, er würde dich nicht lieber vernichten, bevor du Linden erneut verletzen kannst.«
Wenn dir dein Leben lieb ist, wirst du nicht wieder weglaufen . Das hat Vaughn nach meinem gescheiterten Fluchtversuch zu mir gesagt. Aber er hat auch gesagt, ich wüsste gar nicht, wie besonders ich sei, dass Linden zerbrechen würde, sollte er mich verlieren. Und trotz all der schrecklichen Dinge, die ich über Vaughn denke, glaube ich, dass er seinen Sohn gernhat. Er kann keinen Unfall so inszenieren, dass Linden mein Ableben hinnehmen würde. Linden würde seinem Vater nie vergeben, wenn mir unter seiner Aufsicht etwas zustoßen würde.
Ein Schuldgefühl überkommt mich und mit einiger Anstrengung vertreibe ich es. Ich gehöre Linden nicht. Ich will ihn nicht verletzen, aber so wird es nun mal sein.
»Es wird gut gehen. Wir werden einfach nicht erwischt«, sage ich. »Das ist alles.«
Er lacht, aber es ist ein ungläubiges Lachen. »Oh, wenn’s weiter nichts ist.«
»Ich habe gesagt, ich würde dich tretend und schreiend mitschleifen – und das mache ich auch«, erkläre ich. »Siehst du denn nicht, was passiert ist? Du lebst schon so lange in Gefangenschaft, dass dir nicht mal mehr klar ist, dass du noch Freiheit willst. Und sag jetzt nicht, dass es hier nicht schlecht ist. Frag nicht, was die Welt zu bieten hat, was es hier nicht gibt, denn die Antwort darauf kann ich dir nur zeigen. Du musst mir vertrauen. Bitte. Du musst.«
Ich kann ihn zögern hören. Er dreht eine meiner Haarsträhnen um seinen Finger. »Ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen«, sagt er nach einer Weile.
»Im Moment kannst du mich auch nicht sehen«, sage ich – und wir gestatten uns, leise zu lachen.
»Du bist verrückt«, sagt er.
»Hat man mir schon mal gesagt. Also, heißt das nun, dass du meinen Plan wenigstens probieren willst?«
»Und wenn er fehlschlägt?«, fragt er.
»Dann sterben wir wohl beide«, sage ich. Im Wesentlichen meine ich das ernst.
Eine lange Pause entsteht. Seine Hände finden meine Wangen. Dann sagt er sanft, aber deutlich: »Okay.«
In der Dunkelheit eng aneinandergepresst, verständigen wir uns mit gedämpften Stimmen über die Einzelheiten.
Jeden letzten Freitag im Monat so gegen zehn Uhr abends bringt Gabriel den Biomüll durch den Hinterausgang zum Müllwagen, den Hausprinzipal Vaughn kommen lässt. Er wird dem Wagen bei der Abfahrt hinterherschauen und dann seinem Weg durch die Hologrammbäume hindurch folgen und auf mich warten. Ich halte das für einen guten Plan, aber Gabriel fragt immer wieder, wie wir durch das Tor kommen sollen und was wir machen, wenn dort Wachen stehen, aber ich winke ab. »Uns fällt schon was ein«, sage ich.
»Heute Abend besucht Linden mit mir eine Sonnenwendparty in der Stadt. Während der Fahrt präge ich mir die Straßen ein. Ich halte Ausschau nach einem Ort, wo wir hingehen können, sobald wir draußen sind.«
»Wir haben die letzte Dezemberwoche«, sagt er, als wir uns verabschieden. »Also sehe ich dich vermutlich erst nächstes Jahr wieder.«
Wir küssen uns ein letztes Mal, dann schließen sich die Fahrstuhltüren zwischen uns.
Auf der Frauenetage ist das Feuer erfolgreich gelöscht worden, auch wenn wir Abschied nehmen müssen von den verkohlten Überresten der hässlichsten rosa Gardinen, die ich je gesehen habe. Ich komme ins Wohnzimmer, als Jenna gerade Hausprinzipal Vaughn erzählt: »… und da habe ich bemerkt, dass die Flammen der Kerze die Gardine erfasst haben, und ich habe noch versucht, sie zu ersticken, aber das Feuer war schon außer Kontrolle.«
Linden tätschelt ihr
Weitere Kostenlose Bücher