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Totentrickser: Roman (German Edition)

Totentrickser: Roman (German Edition)

Titel: Totentrickser: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Oldenburg
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großen Teil, viele Jahre seiner Jugend hatte er hier verlebt.
    Der Abschied, spürte er, würde ihm trotz allem nicht leicht fallen.
    Wie jedes Mal hörte er genau eine Sekunde, bevor er an der Zimmertür des Vorstehers anklopfte, das vertraute »Herein« aus dem Inneren – die gelegentlich etwas unheimlichen hellseherischen Fähigkeiten des Vorstehers genossen unter den Einwohnern des Waisenhauses einen legendären Ruf, der entschieden zu seiner uneingeschränkten Autorität beitrug.
    Als der Wichteljüngling eintrat, saß der Vorsteher an seinem Schreibtisch und machte mit einer Gänsefeder Eintragungen in ein großes Register, das aufgeschlagen vor ihm lag.
    »Ah, Falfnin«, sagte er, ohne aufzublicken. »Gut, dass du kommst. Es gibt etwas, über das wir sprechen müssen.«
    »Ja«, sagte Falfnin, »ich wollte euch auch eine wichtige Mitteilung machen, Meister.«
    Stets wurde der Vorsteher nur mit diesem Titel angesprochen, seinen wahren Namen kannte niemand, vielleicht nicht einmal er selbst, wie die Gerüchte besagten.
    »Setz dich«, sagte der Vorsteher, weiterhin mit dem Register beschäftigt, und zeigte auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch.
    Ungefähr fünf Minuten verstrichen, während derer das Kratzen der Feder das einzige Geräusch in dem Zimmer war. Dann erst hob der Meister den Kopf und richtete seine grauen Augen auf Falfnin.
    »Es ist jetzt zehn Jahre her, dass du zu uns gekommen bist«, begann er. »Damals warst du noch ein Kind, einsam, elternlos, von aller Welt verlassen, eine der vielen verlorenen Seelen von Verderbnis. Wir haben dich aufgenommen, dir ein Heim gegeben, eine Familie, einen Platz im Leben.«
    Falfnin schlug die Augen nieder.
    »Ich weiß«, sagte er leise. »Und dafür werde ich Euch ewig dankbar sein, Meister.«
    »Doch nicht nur das«, fuhr der Meister fort. »Wir haben dich auch vieles gelehrt, das du nirgends sonst hättest lernen können. Dank unserer Ausbildung vermag kaum jemand so geschickt mit dem Wurfdolch umzugehen wie du, und es gibt auch nur wenige, die es im Kampf mit dem Florett mit dir aufnehmen können.«
    »Das ist wahr«, lachte Falfnin. »Gerade erst vor zwei Tagen habe ich zwei adlige Muttersöhnchen mit der flachen Seite der Klinge nach Hause getrieben – wie ein Bauer sein Vieh auf die Weide. Sie glaubten tatsächlich, ihr Tattergreis von einem Hauslehrer hätte ihnen alles über das Fechten beigebracht. Von diesem Irrglauben habe ich sie erst einmal kuriert.«
    »Wir haben dich in die Kunst eingeweiht, mächtige Kräuteressenzen herzustellen, heilsame wie tödliche«, setzte der Meister seine Rede fort. »Verschlossene Türen sind kein Hindernis für dich, ebenso wenig wie die höchsten Mauern.«
    »Letzte Woche habe ich mit Farnif gewettet, dass ich es schaffe, in zehn Minuten vom Boden bis zum Dach der Luhm-Kathedrale zu klettern. Er hat fünfzig Kopeken dagegen gesetzt. Die gehören jetzt mir«, sagte Falfnin stolz.
    »Du bist immer ein gelehriger Schüler gewesen«, stellte der Meister fest. »Und ich habe deine Fortschritte mit Wohlwollen verfolgt.«
    »Danke, Meister.«
    »Doch nun ist es an der Zeit …«
    Erleichtert lächelnd erhob sich Falfnin.
    »Sprecht nicht weiter, Meister«, unterbrach er, »ich weiß schon, was Ihr sagen wollt. Es ist an der Zeit, dass ich meinen eigenen Weg gehe und mich all der Wohltaten würdig erweise, die mir hier zuteil geworden sind. Wie immer wählt Ihr genau den richtigen Zeitpunkt und blickt klarer in mein Herz als ich selbst. Der Abschied fällt mir nicht leicht, doch nun, wo ich Euren Segen habe …«
    Der Meister sah ihn befremdet an.
    »Deinen eigenen Weg gehen?«, fragte er langsam. »Abschied? Nein, das war es nicht, worüber ich mit dir sprechen wollte.«
    »Nicht?« Falfnin verstummte und ließ sich wieder auf den Stuhl sinken. »Ich dachte …«
    »Nein.« Der Meister schüttelte seinen kahlen Schädel. »Andererseits, ein Abschied und ein Aufbruch in ein neues Leben ist es in gewisser Weise durchaus. Der erste Teil deiner Lehrzeit ist vorbei, nun wirst du lernen, deine erworbenen Fähigkeiten nutzbringend in der Welt dort draußen einzusetzen. Nach und nach wirst du tiefer in die Angelegenheiten der Bruderschaft eingeweiht werden, und wenn du dich weiterhin als gelehrig erweist, wird es sich in klingender Münze für dich auszahlen.«
    »Die Bruderschaft?«, fragte Falfnin. »Ich verstehe nicht, was …«
    »Mit der Zeit wirst du verstehen. So viel kann ich dir bereits jetzt sagen: In die

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