Totenverse (German Edition)
stand neben ihm, die Augen hinter einer Ray-Ban verborgen. Die Sonne schien ihm auf den ungeschützten Kopf. Schon als er gegen den Wagen lehnte, hatte er verschwitzt ausgesehen, aber jetzt sah er so aus, als hätte ihn jemand mit einem Schlauch abgespritzt.
»Wo ist Ihr Hut?«, fragte Nayir.
»Vergessen.«
»Wenn Sie möchten, können Sie mein Shemagh haben«, sagte Nayir und deutete auf sein Kopftuch.
Osama schnaubte. »So was setz ich nicht auf.« Doch dann lächelte er. Nayir schüttelte den Kopf. Es fiel ihm inzwischen leichter, Osama zu verzeihen, dass er so betont unorthodox war.
»Was hat Fuad eigentlich gesagt?«, fragte Nayir.
Osama hielt den Blick nach unten gerichtet. »Kennen Sie das, dass man bei jemandem so eine Ahnung hat?«
Nayir nickte.
»Ich wusste einfach, dass er ein Mann ist, der Frauen hasst. Nach außen hin wirkte er ja ganz modern, hat sogar gesagt, dass er nicht an Gott glaubt, aber im Grunde dachte er noch immer wie ein Fundamentalist: Frauen sind nur dazu da, Männern zu dienen, und Männer können über sie verfügen.«
Nayir fühlte sich gekränkt, wollte aber beim Thema bleiben. »Dann denken Sie also, er hat sie getötet, weil sie eine Frau war?«
»Nicht nur, aber es hat eine wichtige Rolle gespielt. Er hat sie getötet, weil er ihre Lebensart gehasst hat. Sie war nicht sittsam. Sie hat Leute auf der Straße gefilmt. Sie war ständig unterwegs, gegen den Wunsch ihres Bruders. Das alles hat Fuad bis aufs Blut gereizt. Und dann hat sie ihn dabei ertappt, dass er ihren Bruder bestahl, und anstatt das Richtige zu tun und es ihrem Bruder zu sagen, hat sie versucht, Fuad zu erpressen, damit er die Beute mit ihr teilt.«
»Denken Sie, er wäre genauso wütend gewesen, wenn Leila ihn angezeigt hätte?«, fragte Nayir.
»Ja, aber er hätte sie nicht getötet, glaube ich«, sagte Osama. »Er hätte gar keine Gelegenheit dazu gehabt. Er hatte nicht vor, sie zu ermorden, er hat einfach die Beherrschung verloren und es getan. Ich glaube, wäre sie ein Mann gewesen und hätte ihn zur Rede gestellt, hätte er nicht die gleiche mörderische Wut empfunden. Aber sie war eine Frau …« Osama zuckte die Achseln. Dann fragte er zynisch: »Wissen Sie, wieso er überhaupt in die Dessousbranche gegangen ist? Weil er pornobesessen war. Er hatte jede Menge Pornos in seiner Wohnung. Er hat als Verkäufer in Abdulrahmans Geschäft angefangen, weil er, wie wir von seinem Schwager erfahren haben, die Kleiderpuppen so gern angefasst hat. Er fand es völlig in Ordnung, wenn ein Mann sich Pornos anschaut, aber wehe, wenn eine Frau sich Freizügigkeiten herausnimmt! Er hat von Leila Tugend und Sittsamkeit erwartet, aber sie hat ihn erpresst, und dafür hat er sie gehasst. Er ist deshalb so wütend geworden, weil sie sich nach seinen Maßstäben nicht normal verhielt. Wenn Sie mich fragen, ist das zutiefst borniert.«
Nayir wurde gereizter. »Denken Sie denn, nur weil ein Mann Fundamentalist ist, hat er keine Achtung vor Frauen?«
Osama sah ihn aufmerksam an. »Ich will damit sagen, dass er zwar von außen betrachtet nicht religiös war, aber bei genauerem Hinsehen in einer extrem fundamentalistischen Gedankenwelt lebte.«
»In Bezug auf Religion oder auf Frauen?«, fragte Nayir.
»Frauen. Aber Religion und Frauen gehören doch wohl zusammen, finden Sie nicht? Ich meine, kann man ein guter Muslim sein, wenn man denkt, dass Frauen unverschleiert herumlaufen sollten?«
Nayir wusste nicht mehr recht, was er eigentlich dachte, und ihm wurde allmählich zu heiß, um noch klar denken zu können.
»Er war bloß ein Extremfall«, sprach Osama weiter. »Wissen Sie, wen er in seinem Testament bedacht hat? Seinen Schwager in Libyen; der kriegt alles. Und seine Schwester nichts. Immerhin hat er einiges an Briefpapier verschwendet, auf dem er sie ermahnt hat, kein Make-up zu tragen und sich nicht wie eine Hure zu benehmen. Finden Sie nicht, dass das die Sprache eines Fundamentalisten ist?«
Nayir hatte das Gefühl, dass Osama ihn provozieren wollte, deshalb antwortete er nicht. Wieder kreiste ihm das Wort qasama im Kopf. Er ließ seinen Blick über den Platz wandern, aber der ungeklärte Streit hing greifbarer zwischen ihnen als die stickige, feuchte Luft.
Ein dumpfes Grollen stieg von der Menge auf, als in der Ferne erstes Sirenengeheul zu hören war. Sofort zückten viele ihre Handys, vermutlich um Freunde anzurufen und sie über die Hinrichtung zu informieren. Sekunden später kamen sechs Polizeiwagen auf
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