Totenverse (German Edition)
sie schon lange nicht mehr sehen konnte, blieb er noch stehen, wie gebannt von dem leeren Raum, bis er begriff, dass sie nicht mehr zurückkommen würde.
50
Nachdem die Wachen Fuad aus dem Vernehmungsraum geschleift hatten, brachten sie ihn in einen anderen Raum, wo er mit Handschellen an einen Tisch gefesselt wurde, der fest am Boden verschraubt war. Sie legten ihm auch Fußschellen an und ließen ihn allein. Der Angriff auf Katya war wie der mächtige Ausbruch eines Vulkans gewesen, aus dem immer noch gefährlich aussehender Rauch aufstieg.
Als Osama fünf Tage später zu ihm ging, um sich das ausführliche Geständnis anzuhören, hatte sich Fuads Verfassung erheblich verschlechtert. Er sah aus wie einer dieser alten Haddschis, die nach Dschidda kamen und in einem dauerhaften Schwebezustand blieben – es nie ganz bis nach Mekka schafften, aber auch nie mehr nach Hause. Die unter dem Vorwand, Geld für die weite Heimreise zu benötigen, auf den Straßen bettelten. Aber anders als die heimatlosen Haddschis war Fuad nicht so tief gesunken, an das Mitleid anderer zu appellieren. Er war ein gebrochener Mann und redete jetzt nur, um das alles hinter sich zu bringen und aus dieser schrecklichen Hölle herauszukommen.
Normalerweise dauerte so was sehr viel länger. Mindestens ein paar Wochen im Gefängnis. Doch Osama vermutete, dass Fuad es schlecht ertrug, unrasiert, hungrig, übermüdet und verschwitzt zu sein. Er liebte saubere Anzüge, ein gepflegtes Äußeres, teure Uhren. Seine monatlichen Ausgaben für die Reinigung waren exorbitant gewesen. Er hatte genug Geld verdient, um ein luxuriöses Junggesellenleben zu führen.
Osama nahm an dem Tisch Platz, stellte Fuad eine Flasche Wasser hin und schlug seine Akte auf. Ein Wachmann löste Fuads Handschellen, damit er trinken konnte, doch er machte keine Anstalten, nach der Flasche zu greifen.
Osama ordnete in aller Ruhe Unterlagen und Fotos, ohne den Mann gegenüber zur Kenntnis zu nehmen, obwohl der Gestank, der dessen Kleidung entströmte, das beinahe unmöglich machte. Abends brachten die Wachen ihn in eine Gefängniszelle, wo er beten und eine kräftige Mahlzeit zu sich nehmen konnte, doch die Tage verbrachte er hier, wartend.
Am vierten Tag hatte er angefangen zu gestehen, ihnen alles durch den Einwegspiegel erzählt. Aber Osama hatte weiter abgewartet. Sie hatten noch immer nicht alle Spuren analysiert, und sie wollten ihn mürbe machen.
Jetzt hob er den Kopf und sah Fuad an. »Fangen wir noch mal von vorne an«, sagte er leichthin. »Sie haben sie getötet.«
»Ja.«
»Wann?«
Als Fuad anfing zu reden, merkte Osama, dass Fuads Zunge geschwollen war. Er schob die Flasche Wasser weiter zu ihm rüber, aber Fuad beachtete sie nicht. Er war in einem elenden Zustand, aber er hatte noch immer seinen Stolz.
»Sie ist also an jenem Morgen zu Ihnen gekommen, um Ihnen die Videoaufnahme zu zeigen«, sagte Osama auffordernd.
»Ich bin wütend geworden.« Auf Fuads Gesicht zeigte sich nur ein Anflug von Reue, und es schien ihm eher darum zu gehen, sich von der Erinnerung nicht wieder aufwühlen zu lassen. »Sie hat mir ein Geschäft angeboten«, fuhr er fort. »Sie wollte die Hälfte des Geldes und dafür ihrem Bruder nichts sagen.«
»Ihm nicht sagen, dass Sie ihn bestehlen?«
»Richtig.« Fuad schluckte, fuhr sich mit der Zunge an der Innenseite der Wangen entlang.
»Und was haben Sie zu dem Angebot gesagt?«, fragte Osama.
»Ich hab gesagt …« Er stockte. Das war der Teil, den er übergangen hatte, als er seine Schuld gegen das Fenster schrie. »Ich hab gesagt, ich würde drüber nachdenken. Aber sie hat gesagt, nein, sie wollte sofort eine Antwort.«
Osama hatte auf einmal alles glasklar vor Augen. Leila mochte ja mutig genug gewesen sein, um die Ungerechtigkeit und Heuchelei in der Welt um sie herum zu kritisieren, aber letztlich war sie keine Idealistin. Er dachte zurück an all die Berichte, die er gelesen hatte, an Majdis Beweismittel, Katyas Vernehmungsnotizen, an die Gespräche mit Abdulrahman und Ra’id und Bashir. Geld war der Grund für alles. Leila brauchte welches. Es war das Hauptthema bei all ihren Interviews mit Frauen. Und vielleicht war das Leilas Hauptinteresse gewesen: an Geld zu kommen, um aus der Abhängigkeit von Männern ausbrechen zu können. Bashir hatte es auf den Punkt gebracht: Es ging ihr nur um sein Geld.
Hatte sie auch andere Videoaufnahmen für Erpressungen benutzt? Das Material mit Mabus wäre ein besseres
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