Totenverse (German Edition)
Kopf. Sie fuhr nach unten. Licht blitzte auf. Metall, das auf Stein traf. Aufkeuchen und ein kurzer Schreckensschrei. Fuads Kopf fiel zu Boden.
Blut spritzte aus seinem Hals auf die Plastikplane. Hinter ihnen fiel jemand in Ohnmacht, was in der Menge für Unruhe sorgte und Nayir zwang, sich umzudrehen. Er sah nur zahllose weiße Gewänder von hinten, ein gleißendes Meer aus Weiß.
In ihm war Stille. Das Wort hatte aufgehört, sich zu wiederholen. Nayir starrte auf den Boden, auf die Männer, die sich bückten, um den abgetrennten Kopf aufzuheben, auf den Arzt, der sich überflüssigerweise über Fuads Leiche beugte, um den Tod festzustellen. Nayir spürte, wie sich seine Atmung wieder normalisierte. Spürte ein kühles Frösteln über seinen Körper gleiten. Ein neues Wort tauchte auf. Nicht mehr qasama , sondern dessen naher Verwandter qismah . Schicksal. Dein Anteil. Deine Hälfte dessen, was zerteilt wird.
Er befand, dass Fuad bekommen hatte, was er verdiente.
52
Nayir ging neben Katya her. Sie kamen nur langsam voran, weil sie einen Neqab trug und gelegentlich stehen blieb, um den Schleier zu heben und den Sonnenuntergang über dem Roten Meer zu betrachten. Er musste sie im Auge behalten. Schon mehr als einmal hatte er sich umgedreht und festgestellt, dass sie ein Stück zurückgeblieben war. Der kleine Schreck, der ihn jedes Mal durchfuhr, wenn er merkte, dass er sie verloren hatte, wenn auch nur für einen Moment, ließ seine Gedanken zu den vielen verheirateten Männern wandern, die seelenruhig die Bürgersteige entlangspazierten, während ihre Frauen folgsame zehn Schritte hinter ihnen gingen. Wie konnten sie wissen, dass ihre Frauen ihnen tatsächlich folgten? Dass sie nicht stehen blieben und in Schaufenster schauten oder heimlich ihre Neqabs hoben und fremden Männern zuzwinkerten?
Katya war heute Abend stiller als sonst. Einerseits machte ihm das Angst, aber zugleich verspürte er eine unbändige Großzügigkeit, die sich aus ihm Bahn brach, und er dachte sich, dass dieser Rückzug ins Schweigen die weibliche Entsprechung zu monatelangen Ausflügen in die Wüste war, wie er sie selbst häufig unternommen hatte, daher konnte er es ihr nicht verübeln. Er wünschte, sie würde mithelfen, das Gespräch in Gang zu halten, und seine Fragen nicht nur mit aiwa oder laa beantworten. Als die Sonne hinter dem Horizont versank, riss ihn eine Explosion von Farben aus diesen Gedanken, und einen Moment lang umhüllten ihn das zartrosa- goldene Licht und die grasig duftende Brise und machten die Aussicht von der Corniche ebenso ergreifend wie ein Ramadan-Gebet.
Es hatte den Anschein, als würde alle Welt an Essen denken. Das Wetter war ungewöhnlich kühl für die Jahreszeit, höchstens 32 Grad, und halb Dschidda war unterwegs, um zu picknicken. Die Menschen breiteten Teppiche am Strand aus, an Straßenrändern, auf Parkplätzen. Sogar Zelte wurden auf dem Bürgersteig der Corniche aufgebaut, der vier Meter breit war und sich bis zum Horizont erstreckte, sodass auf ihm wahrscheinlich Platz für die ganze Nation gewesen wäre. Wer weniger gut vorbereitet war, hatte es sich auf dem Sand neben Imbissbuden, die balela verkauften, bequem gemacht. Alle paar Meter trieb der warme Duft von Kichererbsen und gegrilltem Lammfleisch über die Promenade. Und obwohl zwischen den Familien respektvoller Abstand gehalten wurde, wirkte die ganze Szene so emsig wie ein Korallenriff.
»Was macht die Arbeit?«, fragte er in der Hoffnung, dass da das Problem lag, dass es nichts Schlimmeres war – und nichts mit ihm zu tun hatte.
»Alles in Ordnung.« Schon wieder so eine knappe Antwort, die förmlich zum argwöhnischen Nachfragen einlud. Aber er wollte sie nicht bedrängen.
Sie gingen weitere zehn Minuten schweigend nebeneinander her, bis sie das ruhige Familienrestaurant erreichten, wo man von neugierigen Blicken abgeschirmt in separaten kleinen Hütten speisen konnte. Er war ein paarmal mit Samir hergekommen, und das Essen war immer ausgezeichnet gewesen.
»Das ist aber schön!«, rief Katya. »Wie hast du das entdeckt?«
»Da draußen ist eine gute Stelle zum Tauchen.« Er deutete auf das Wasser, das rund zehn Meter entfernt begann. Sie sah aus, als wollte sie etwas sagen, tat es aber nicht.
Ein Kellner führte sie zu einer Hütte im Südseestil, in der gerade genug Platz für zwei Personen war. Die Wände waren aus dunklem Bambus, aber eine Seite war offen und bot Aussicht auf einen felsigen Strand und das Rote
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