Totenverse (German Edition)
denn es konnte schließlich nur funktionieren, weil zwischen Ladenbesitzern und Kundinnen, zumindest in meiner Vorstellung, ein hohes Maß an Vertrauen bestand. Zugleich deprimierte es mich, dass Frauen enorme Schwierigkeiten hatten, zu den Geschäften und wieder nach Hause zu kommen, dass immer weniger Ladenbesitzer den Frauen erlaubten, Sachen mit nach Hause zu nehmen, ohne sie zuvor bezahlt zu haben, und dass überhaupt die Vorstellung verbreitet war, es sei unmoralisch und möglicherweise sogar gefährlich für Frauen, Unterwäsche in einer Umkleidekabine anzuprobieren. Hinzu kam, dass ich es in einer Gesellschaft, wo es für Frauen tabu ist, mit fremden Männern auch nur zu sprechen, schier verrückt fand, dass sie Körbchengrößen und Höschenmodelle mit männlichen Verkäufern erörtern sollten.
Die saudischen Frauen haben immer wieder ausschließlich weibliches Personal für Dessousläden gefordert, und schließlich hat die Regierung es Frauen erlaubt, Seite an Seite mit Männern in Geschäften zu arbeiten, wo »Frauenartikel« verkauft werden. Allerdings wurde das Gesetz nie umgesetzt. Es gilt, viele gesellschaftliche Schranken zu überwinden – angefangen beim Dogmatismus der Geistlichen bis hin zur Ansicht der Durchschnittsbürger, dass Frauen außerhalb ihrer eigenen vier Wände nicht arbeiten sollten. Die Dessousbranche ist zu einer Front im Kampf für Frauenrechte geworden, daher fand ich es passend, dass mein Opfer, Leila, irgendwie mit dieser Branche zu tun hatte. Sie sollte eine rebellische Persönlichkeit haben und einen privaten Kampf mit der alten Garde ausfechten, also mit Männern wie ihrem Bruder.
Das Saudi-Arabien in Totenverse wirkt anders als das in Die letzte Sure. Verändert sich das Land so stark oder haben Sie Ihren Blickwinkel erweitert ?
Das Land verändert sich fraglos. Wenn man über Saudi-Arabien schreibt, ein Land, das im Westen meist missverstanden und karikiert wird, steht man vor dem Problem, dass die Leser meinen könnten, das, was sie lesen, stelle das Land in seiner Gesamtheit dar. Die meisten Leser begreifen durchaus, dass Nayir so etwas wie ein Außenseiter ist, der als elternloser und strenggläubiger Mensch ein recht ungewöhnliches Leben führt, aber ich hatte das Gefühl, dass ein zweiter Roman mit neuen Figuren eine umfassendere Sicht auf die Stadt Dschidda und ihre Gesellschaft eröffnen könnte.
Außerdem sehe ich in dem Land eine Tendenz, dass sich konservative Muslime westliche Methoden aneignen, um ihre Botschaften zu verbreiten. In Riad findet zum Beispiel ein Schönheitswettbewerb statt, in dem die »moralische Schönheit« von Frauen beurteilt wird, und zwar nach dem Kriterium, wie gut sie ihre Eltern behandeln. In einem Talentwettbewerb à la »Deutschland sucht den Superstar« wird der beste religiöse Sänger gekürt. Gleichzeitig jedoch greift die westliche Kultur unaufhaltsam um sich. In Dschidda strömen die jungen Leute in Scharen in die Open-Air-Konzerte einer Teenie-Band namens »Spice Babes«, um Livemusik zu hören, die eigentlich im Königreich verboten ist. Diese Widersprüchlichkeiten faszinieren mich.
In Totenverse tritt eine neue Figur auf, Osama, der liberaler und weniger fromm ist als Nayir. Was hat Sie zu dieser Figur inspiriert?
In gewisser Weise habe ich Osama als Gegenmodell zu Nayir konzipiert. Osama ist ein moralischer und aufrechter Mann, der sich in seinen Entscheidungen nicht von religiösen Dogmen leiten lässt. Er vertritt eine wesentlich liberalere Haltung, vor allem im Hinblick auf die Geschlechtertrennung. Ich fand, dass er eine echte und glaubwürdige Provokation für Nayir darstellen würde, vor allem, da er Katyas Vorgesetzter ist und mehr Zeit mit ihr verbringt als Nayir.
Von allen meinen Männerfiguren ähnelt Osama meinem Exmann am meisten. Er ist ein Freigeist, der gewisse Aspekte seiner Kultur empörend findet, aber mitunter feststellt, dass er doch viele traditionelle Werte unbewusst verinnerlicht hat. Und er findet es schwierig, sich zu ändern. So gesehen, steht er genau auf der Grenze zwischen dem Alten und dem Neuen.
Die Beschreibungen der Wüste zählen zu den beeindruckendsten Szenen im Buch. Was hat Sie daran gereizt, über die arabische Wüste zu schreiben?
Ich habe eine Schwäche für die uralte Geschichte vom Kampf des Einzelnen gegen die Natur. Und für mich ist die Wüste das unwirtlichste Gebiet der Erde, mit bis zu dreihundert Meter hohen Dünen und Temperaturen, die tagsüber auf 55
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