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Totenverse (German Edition)

Totenverse (German Edition)

Titel: Totenverse (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoë Ferraris
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das ein so wildes, windgepeitschtes Bild von der Wüste in ihm herauf, dass er seine Aufregung kaum noch dämpfen konnte. Dann hatten sie die Wüste erreicht, und sie war so mörderisch heiß, dass er und die anderen Kinder nicht nur zum ersten Mal das Gesicht bedecken und in regelmäßigen Abständen Wasser wie Arznei zu sich nehmen mussten, sondern auch die peinlichen Auswirkungen von Salztabletten auf den Magen-Darm-Trakt kennenlernten.
    In jenem Jahr hatte er seine erste Sonnenbrille getragen und war von Abu-Tareqs Tochter Amira damit geärgert worden, er sähe aus wie ein Amerikaner, also hatte er sie abgenommen und nie wieder eine Sonnenbrille aufgesetzt. Die junge, schöne Amira mit den strahlend grünen Augen. Sie schwor, sie würde ihn eines Tages heiraten, und zu seiner späteren stummen Beschämung glaubte er ihr. Tagsüber schliefen sie nebeneinander im Zelt seines Onkels Samir auf einer alten Strohmatratze, die eigenartig grün war und chemisch roch. Über ihnen ragten auf hölzernen Klapptischen irgendwelche Geräte auf. Er und Amira rollten sich immer zusammen wie Zwillinge, Nase an Nase, mit Staub an den Wangen und Sand in den Haaren. Manchmal verschränkten sie die Beine, und einmal band er ihr mit einem Stück Schnur ein Büschel Haare zusammen, während sie schlief, und machte es dann mit einer längeren Schnur an seinen eigenen Haaren fest. Der Wind weckte sie in der Abenddämmerung, und dann hörten sie, wie das Lager lebendig wurde, und die Kühle der Nacht lockte sie nach draußen. Die verschlungenen Beine waren vergessen, wenn sie losliefen, um zu spielen.
    Heute konnte er sich kaum mehr vorstellen, einmal einem Mädchen so nahe gewesen zu sein, so nahe, dass sie auf ein und derselben Matratze geschlafen und sich als »beste Freunde« bezeichnet hatten. Mit elf war Amira zur »Frau« geworden, und ihre Mutter hatte sie verschleiert und zu ihren Schwestern geschickt. Er sah sie nie wieder. Im Winter darauf war Dr. Roeghars Ausgrabung ohne sie weitergegangen, und schon bald war Nayir erwachsen genug, um sich zu schämen, wenn er manchmal noch an ihr Gesicht dachte.
    Nayir trank die halbe Flasche Wasser und widerstand dem Drang, sich den Rest über den Kopf zu gießen. Gleich vor der Garage stand Abdullah bin Salim, dem die Hitze nichts ausmachte. Er beobachtete den Verkehr auf dem Boulevard mit derselben Miene, die er aufsetzte, wenn er die Winterlandschaft des Leeren Viertels betrachtete, einem nachdenklichen und herausfordernden Blick, der besagte: Was hast du dieses Jahr für mich in petto?
    Als Nayir zu ihm trat, runzelte er die Stirn. »Hältst du das wirklich für richtig?«, fragte Abdullah.
    Nayir lag auf der Zunge, dass er das jedes Jahr sagte, ganz gleich, was für Leute sie in die Wüste führten. »Ich muss zugeben«, sagte er, »sie wirken schlecht vorbereitet.«
    Abdullah antwortete nicht.
    »Hör mal«, sagte Nayir, »ich bin sicher, alles wird gut.«
    Abdullahs Augen blieben weiter auf den Boulevard gerichtet. »Woher kennst du sie?«
    »Über Samir. Er kennt den Vater seit zwölf Jahren.«
    »Diese Leute sind keine Beduinen und waren nie welche. Ein Blick genügt, dann weißt du, dass sie sharwaya waren.« Schafhirten, keine »echten« Beduinen, deren Leben von Kamelen bestimmt wurde. Es war eine Beleidigung, aber auch diese Bemerkung hörte Nayir nicht zum ersten Mal. Die Familien, die sie in die Wüste führten, waren Abdullah nur selten gut genug. Und vielleicht stimmte es ja auch, dass sie niemals in der Landschaft überleben könnten, die ihre Ahnen 6000 Jahre lang bewohnt hatten, aber sie versuchten es, und das war immerhin auch schon was.
    Nayir nickte höflich. »Wahrscheinlich hast du recht. Also bringen wir ihnen bei, was echte Beduinen sind.« Sein Handy klingelte erneut, und diesmal ging er ran. Er hörte seinem Onkel geduldig zu, gab ein paar Laute von sich, und kaum hatte er aufgelegt, entschuldigte er sich und eilte auf den Parkplatz zu seinem Jeep.

3
     
    Als Miriam Walker sich in den hinteren Bereich des Flugzeugs schob, schwante ihr bereits, dass der Flug nach Dschidda anstrengend werden würde. Die Maschine war ausgebucht. Die Fächer über den Sitzen reichten nicht für das viele Bordgepäck, nervöse Stewards eilten auf der Suche nach Stauraum durch die Gänge. Weit hinten sah sie ihren Platz, Nummer 59C, ungefähr so weit entfernt wie die Pins auf der Bowlingbahn. Sie verspürte eine vertraute Mischung aus Grauen und Freude. Sie freute sich darauf, Eric

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