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Totenverse (German Edition)

Totenverse (German Edition)

Titel: Totenverse (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoë Ferraris
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wiederzusehen – schließlich war sie einen Monat fort gewesen –, aber schon dieser schlichte Weg den Gang hinunter markierte die Rückkehr in eine Welt, wo sie manchmal mehrere Wochen am Stück das Haus nicht verlassen würde. Auf den letzten Metern in der Schlange, die schleppend vorankam, drängelte sie sich schließlich vor, wollte sich endlich anschnallen, als könnte nur der Sicherheitsgurt sie daran hindern, wieder auszusteigen und alles rückgängig zu machen.
    Miriams Sitznachbar war ein Mann. Sie wäre nicht erstaunt gewesen, wenn Saudia Vorschriften gehabt hätte, die es untersagten, Frauen neben fremden Männern zu platzieren, aber anscheinend war dem nicht so. Der Mann starrte sie an, als sie näher kam, einen wissenden Blick im Gesicht. Er hatte die dunklen Augen und die olivbraune Haut eines Arabers, aber auch einen natürlich blonden Haarschopf. Der Kontrast machte ihn bemerkenswert attraktiv. Miriams Wangen röteten sich. Ein Schritt zur Seite brachte sie hinter einen großen Mann mit Turban. Langsam, wie in Gedanken staffte sie die Schultern und fuhr sich mit der Zunge über die Vorderzähne. Ein erneuter kurzer Blick verriet ihr, dass er sie weiter anstarrte. Sie waren noch immer in New York, aber sie spürte, dass Saudi-Arabien sich auf sie legte wie die recycelte Luft in der Maschine. Sie fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Genieß dein letztes bisschen Freiheit, Lockenköpfchen .
    Sie sank in ihren Sitz und bedachte ihren Nachbarn mit einem beiläufigen Lächeln, das geschickt ihren schiefen Schneidezahn verbarg. Er begrüßte sie mit einem zufriedenen Blick. Um zu verhindern, dass er sie ansprach, kramte sie in ihrer Handtasche, um sie dann mit übertriebener Anstrengung unter dem Vordersitz zu verstauen und anschließend etliche Minuten lang den Inhalt der Lehnentasche zu erkunden. Zu ihrer Überraschung entdeckte sie dort etwas Tröstliches – einen seidenen Kordelzugbeutel, den offenbar ihre Sitzvorgängerin vergessen hatte. Darin befand sich eine Zahnbürste, ein Stück Seife, ein Schildpattkamm und ein kleines Fläschchen Parfüm von Calvin Klein. Escape . Sie musste schmunzeln.
    Als das Flugzeug vom Gate wegrollte, verkrampfte sich Miriam. Kein Zurück mehr. Sie hatte früher nie Flugangst gehabt, aber Saudi-Arabien hatte sie verändert. Als sie über die Startbahn donnerten, übernahmen ihre Instinkte die Kontrolle. Kalte Hände, nasse Stirn, beengte Brust. Die Maschine würde nie und nimmer schnell genug werden, um abheben zu können. Alle starrten auf die Fenster und Wände, die heftig vibrierten. Ein Gepäckfach sprang auf, und Jacken und eine Kaffeedose ergossen sich auf den Kopf eines Passagiers. Sie fragte sich, warum ein Mensch Folgers-Kaffee mit nach Dschidda nahm.
    »Wissen Sie«, sagte der Mann neben ihr, »dass früher auf Saudia-Flügen Mohammeds Gebet für die Reise über die Lautsprecher kam?«
    »Ach ja?« Sie lachte nervös.
    »Noch so eine verlorene Tradition.« Er wirkte beinahe amüsiert.
    Sie spürten den Widerstand ihrer Körper gegen den Steigflug. Ein Mann auf der anderen Seite des Ganges begann zu fluchen. Miriam hätte ihm am liebsten gesagt, er solle den Mund halten, aber sie war gefangen in einer Grauzone aus Beten und Hoffen, dass sie nicht vom Himmel stürzten. Dann ging das Flugzeug jäh in die Horizontale. Es schien mitten in der Luft stehen zu bleiben und wie ein Walross auf einem Ballon zu schweben. Ein mechanisches Wiegenlied summte ihr im Kopf. Es war Mitternacht, und sie hatte Angst, eine Kombination, die sie todmüde machte. Um der Flugangst zu entgehen, blieb ihr nur die Möglichkeit, sich der Leere der Bewusstlosigkeit zu überlassen, aber auf Saudia-Flügen gab es keinen Alkohol, und die dunkle Ruhe des Schlafes würde erst in greifbare Nähe rücken, wenn die Kabinenlichter erloschen. Sie schloss die Augen, hoffte, ihren Nachbarn davon abhalten zu können, ein Gespräch anzuknüpfen, aber er drückte den Rufknopf. Pling . Ein gereizt wirkender Steward kam. Ihr Nachbar beugte sich an ihr vorbei, berührte mit seiner Schulter beinahe ihre Brust. »Verzeihung«, sagte er. Er bat um zwei leere Becher.
    »Einen für mich«, erklärte er dem Steward, »und einen für meine Freundin.«
    Er fischte zwei kleine Flaschen Wein aus seiner Jacketttasche. Miriams Brust wurde noch enger.
    »Sie wissen, dass das –«
    »Verboten ist«, sagte er. »Ja. Aber was wollen sie machen, uns aus dem Flugzeug schmeißen?« Er lächelte sie an, füllte die

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