Totenverse (German Edition)
Dann würde sie ihren Schleier lüften und das Gefühl genießen, wieder richtig sehen zu können.
Der Gang wurde still, und sie hob den Schleier. Draußen verblasste der letzte Hauch des Sonnenuntergangs am Himmel. Der monströse Saudia-Jet, der sie von New York hergebracht hatte, schimmerte grün in der Rollfeldbeleuchtung. Er war drei Stockwerke hoch und verspottete die Schwerkraft genauso, wie die Titanic einst die Weiten des Meeres verspottet hatte.
Sie zog ihr Handy aus der Tasche und warf einen Blick aufs Display: kein Anruf von Eric. Hoffentlich bedeutete das, dass er rechtzeitig von der Arbeit losgefahren war und in der Ankunftshalle auf sie wartete.
Sie zog den Neqab herunter und trottete hinter anderen Nachzüglern durch eine Reihe von mit Teppichboden ausgelegten Gängen, bis sie in die riesige, grell ausgeleuchtete Zollabfertigungshalle kamen, wo die Passagiere vor der Passkontrolle Schlange standen wie Waisenkinder in der Suppenküche. Abgesehen von den religiösen Stätten war das hier einer der wenigen Orte, wo Saudis mit ihren ausländischen Arbeitskräften in Berührung kamen – ihren philippinischen Hausmeistern, ägyptischen Taxifahrern und indonesischen Hausmädchen.
Miriam stellte sich an, machte sich auf eine vermutlich endlos lange Wartezeit gefasst und ordnete ihre Kleidung – ein schwarzer Umhang, ein einfaches Kopftuch und ein Neqab, das ihr Gesicht bedeckte. Manche Frauen trugen ihre Schleier und Umhänge mit einer natürlichen Leichtigkeit. Sie schwebten durch die Straßen, rauschten dahin, entspannt im Einklang mit dem Fadenlauf ihres Stoffes. Unter Fremden bewegten sie sich einfach mit Trippelschritten durch die Menge. Sie wussten, dass Männer vor ihnen zurückweichen würden wie Höflinge vor einer nahenden Königin, ehrfürchtig, achtsam, sie nicht zu berühren. Sie konnten mit Röntgenblick durch schwarzen Stoff sehen, sahen die Bordsteinkante rechtzeitig, sahen den jugendlichen Fahrer, der herangerast kam, sahen jeden einzelnen Artikel im Schaufenster eines Geschenkeladens, ohne je ihren Schleier heben zu müssen.
Und dann gibt es Frauen wie mich , dachte Miriam, Frauen, die in ihren Umhängen stecken wie Plastikpuppen in Frischhaltefolie an einem heißen Sommertag. Frauen, die unaufhörlich an sich herumzupfen, stolpern, ihre Schleier auffangen, ehe sie zu Boden rutschen. Ganz zu schweigen davon, dass ihr Neqab keinen Schlitz für die Augen hatte, bloß eine Stelle mit dünnerem Stoff, durch die sie manchmal große Formen ausmachen konnte. Eric hatte ihr mal geraten, sie sollte sich vorstellen, es wäre eine Sonnenbrille. Arschloch .
Unwillkürlich musste sie bei der Erinnerung daran lächeln.
Eine Stunde später legte sie ihren Pass in die Vertiefung unter der kugelsicheren Scheibe und schlug widerwillig ihren Neqab zurück, damit der Beamte ihr Gesicht sehen konnte. Er verglich es ausgiebig mit ihrem Passfoto. So schwierig konnte das gar nicht sein, aber sie fasste sich in Geduld und sagte sich, dass er durchaus das Recht hatte, seine Aufgabe ernst zu nehmen.
»Wo kommen Sie her?«, fragte er und rieb sich mit dem Finger unter der Nase.
»North Carolina.«
»Wann kehren Sie nach Amerika zurück?«
So bald wie möglich . »Juni.«
»Auf Dauer oder vorübergehend?«
»Auf Dauer.« Sie blinzelte. »So Gott will.«
Der Beamte blickte auf. »So Gott will.«
Er blätterte alle vierundzwanzig Seiten ihres Passes durch, dann rieb er sich die Nase und pustete geräuschvoll Luft durch die Nasenlöcher. »Tja, Mrs Walker –«
» Dr . Walker.«
»Mrs Walker.« Er klappte den Pass zu und schob ihn unter der Scheibe durch. »Sie haben keine Arbeitserlaubnis. Es tut mir leid, aber Sie dürfen ohne Ihren Ehemann nicht einrei–«
»Mein Ehemann ist hier. Ich bin sicher, er wartet schon auf der anderen Seite der Absperrung.«
Der Beamte blickte finster auf sie herab. »Und dieser … Ehemann … wo arbeitet er?«
»SynTech Corporation«, sagte sie und spürte, wie der Mann in der Schlange hinter ihr sie anstarrte. »Er heißt Eric Walker. Er ist in –«
»Wer ist sein Bürge?« Der Beamte wandte sich der Tastatur vor seinen Händen zu.
»Sein Bürge heißt Mohammed al-Said.«
Der Beamte tippte etwas und studierte den Computer endlos lange, bis er schließlich die Stirn runzelte. Er bedeutete ihr mit einem knappen Nicken, dass sie durchgehen konnte.
Sie war nicht in der Stimmung, ihm zu danken.
»Ma’am, bitte Sie Ihr Gepäck hier legen.« Der Zollbeamte
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