Totenverse (German Edition)
Faruha hat sie immer gedeckt.«
»Dann hatte er also keine Ahnung, was Leila in Wirklichkeit machte? Er hat nie rausgefunden, dass sie auf den Straßen unterwegs war und filmte?«
»Nein.«
»Wie können Sie da so sicher sein?«
Ra’id schob die Unterlippe vor. Trotz der stoppeligen schwarzen Barthaare auf seinem Kinn war es das Kinn eines Jungen, und er wirkte von Minute zu Minute kindlicher. »Glauben Sie mir, wenn er es herausgefunden hätte, dann hätten wir das gemerkt.«
»Er ist aufbrausend«, suggerierte Osama.
»Allerdings«, sagte Ra’id. »Aber er hätte ihr nie was getan, selbst wenn er wütend war. Er hätte sie angebrüllt, aber mehr auch nicht.«
Osama nickte. »Uns liegen Zeugenaussagen vor, nach denen Leila und Ihr Onkel sich wegen Geld gestritten haben.«
»Stimmt. Sie wollte immer mehr haben, und er hat ihr keins gegeben. Er dachte, sie kauft sich damit bloß Klamotten. Natürlich hat sie ihm nicht erzählt, dass sie das Geld für ihr Projekt brauchte.«
»Wie liefen diese Streitereien ab?«
»Sie haben sich gegenseitig angeschrien, mehr nicht.« Ein gelassener Ausdruck breitete sich auf Ra’ids Gesicht aus. »Er ist nie handgreiflich geworden.«
Osama beschloss, eine andere Richtung einzuschlagen. »Wo waren Sie am Morgen ihres Verschwindens?«
»Äh … Ich bin an dem Morgen mit Abdulrahman zur Arbeit gefahren, weil Fuad später kam und sie jemanden brauchten, der ans Telefon geht. Nur für ein paar Stunden.«
»Verstehe. Und wer war sonst noch im Geschäft?«
»Tja, Abdulrahman ist gleich weiter, Einkäufe machen. Fuad kam rein, als ich ungefähr eine Stunde da war.«
»Wo war Fuad gewesen?«
»Weiß ich nicht. Er hat oft irgendwelche Erledigungen zu machen. Ansonsten waren an dem Tag so ziemlich alle da. Aber ungern, das weiß ich noch. Die Klimaanlage war seit ein paar Tagen kaputt, und es war brütend heiß. Ach so, ja, ich glaube, Fuad war unterwegs, um jemanden aufzutreiben, der die Anlage repariert.«
»Was war denn mit der Klimaanlage?«, fragte Osama.
Ra’id zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ist einfach kaputtgegangen. So was ist noch nie vorgekommen.«
Osama stellte noch ein paar leichtere Fragen, achtete aber gar nicht mehr auf die Antworten. Er dachte an etwas, das Rafiq einmal gesagt hatte: Diese älteren Burschen, die geben es nie ganz auf . Gemeint war das feste Regelwerk im Kopf, wie schickliches Verhalten auszusehen hatte. Ein jüngerer Mann konnte vielleicht hinnehmen, dass seine Cousine durch die Stadt zog und Prostituierte und Diebe filmte, aber ein Bruder von Mitte vierzig?
Es war offensichtlich, dass Abdulrahman kein scharfes Auge auf seine Schwester gehabt hatte. Er war einfach davon ausgegangen, dass sie tat, was er ihr sagte: schön brav zu Hause bleiben. War er auf einmal dahintergekommen, was sie in Wirklichkeit machte? Und wenn ja, war er daraufhin durchgedreht?
Er dachte an Nuhas Antibabypillen auf dem Küchentisch und an beschämende Gefühle, nachdem er die Packung zertrümmert hatte, das Gefühl, dass er sich nicht beherrschen konnte und dass es eine sehr traditionelle Seite in ihm gab, die sich nicht so einfach verdrängen ließ. Doch statt dies als einen Charakterfehler zu betrachten, ging ihm jetzt durch den Kopf, dass jeder Mann seinen geheimen Auslöser in sich trug. Hatte Leila, wie Nuha, irgendetwas getan, das den überraschenden Zorn ihres Bruders entfacht hatte?
»Also gut, das wäre alles«, sagte Osama und stand auf.
Ra’id erhob sich, schob die Hände in die Taschen und ließ den Kopf hängen, sodass ihm die Haare über die Augen fielen. Als er sich verabschiedete, schien er froh zu sein, gehen zu dürfen, aber an der Tür blieb er stehen und sagte: »Sie sagen uns doch Bescheid, wenn Sie ihren Mörder gefunden haben, nicht?«
»Selbstverständlich«, sagte Osama und sah ihm nach, wie er zur Tür hinaus verschwand.
24
Dienstags vor dem Dhuhr-Gebet war die beste Zeit, um Imam Hadi allein anzutreffen. Eigentlich sollten seine älteren Schüler dann ihre Rezitationen üben, aber da sie immer erst nach dem Asr kamen, konnte er mit den gelegentlichen Besuchern, die um diese Lücke in seinem Tagesablauf wussten, in seinem Büro eine Tasse Tee trinken. Meistens saß er hinter dem prächtigen Eichenschreibtisch, die Brille auf der Nase, sein Shemagh hinter ihm über die Lehne gehängt, und las oder schrieb.
So fand Nayir ihn vor, und er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er ihn störte, aber Imam Hadi hieß ihn wie immer
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