Totenverse (German Edition)
fiel auf, wie vorsichtig Ra’id sich ausdrückte. Der Gedanke, dass Leila diese Frauen am Herzen lagen, passte nicht unbedingt zu dem Verhalten, das Leila in den Videoclips an den Tag gelegt hatte. Offenbar war es ihr eher darum gegangen, die Charakterschwäche und Heuchelei der Prostituierten bloßzustellen, sie sogar zu demütigen.
»Leila ging es nicht vielleicht darum, diese Frauen bloßzustellen?« fragte Osama.
»Nein! Sie hat ihre Privatsphäre geachtet.«
»Aber Sie müssen doch zugeben, dass es für Leila eine ideale Gelegenheit gewesen wäre, Aufsehen zu erregen und als Filmemacherin bekannt zu werden.«
»Darum ging es ihr aber nicht! Sie hätte die Gesichter der Frauen unscharf gemacht, damit keiner sie wiedererkennt. Und sie hat mit kaum jemandem über das Projekt gesprochen.«
Ra’ids Arglosigkeit ärgerte Osama. Er hätte dem Jungen am liebsten gesagt, dass die vermeintlich idealistische Leila vielleicht nur raffiniert gewesen war und ihrem Neffen vorgegaukelt hatte, sie würde für eine gute Sache kämpfen. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass Leilas »gute Sache« Geld und Ruhm gewesen waren.
»Hat Leila je darüber gesprochen, was sie sich von diesem Filmprojekt erhoffte?«, fragte er.
»Oh ja. Sie wollte den Film bei Festivals in Syrien und New York einreichen. Und sie hatte dafür schon alles Material beisammen. Sie musste bloß noch …« Er stockte, als würde ihm in diesem Moment schmerzlich klar, dass das Projekt nie abgeschlossen werden würde. »Sie musste bloß noch alles zusammenschneiden und einen richtigen Dokumentarfilm daraus machen. Aber sie … sie ist dazu nicht mehr gekommen.« Er atmete tief aus und kämpfte mit den Tränen.
Der Junge war bemitleidenswert, aber Osama konnte ihn noch nicht gehen lassen. »Leila war doch bestimmt computermäßig ausgestattet, um ihr Filmmaterial zu bearbeiten, oder?« Ra’id nickte. »Wo ist ihr Computer?«
»Den hat sie verkauft, weil sie Geld brauchte«, sagte er mit bebender Stimme.
»Wissen Sie, an wen sie ihn verkauft hat?«
»Nein, keine Ahnung. Aber sie hat mehr dafür bekommen, als er wert war. Sie konnte gut handeln.«
»Was ist mit ihrer Videokamera?«, fragte Osama.
»Ich weiß nicht. Die hatte sie bei sich. Ist wahrscheinlich weg.«
Osama versuchte, Rafiqs Stimme aus den Tiefen seines Unterbewusstseins heraufzubeschwören, aber sie meldete sich nicht, und er musste sich seinem natürlichen Gefühl beugen, dass dieser Junge seine Cousine niemals getötet hätte. Er hatte sie angehimmelt und verehrt, und jetzt würden ihn diese Ermittlungen zu der Einsicht zwingen, dass seine Verehrung vielleicht unangebracht gewesen war. Was Osamas nächste Frage noch unangenehmer machte.
»Wussten Sie, dass sie mit einem Amerikaner zusammen war?«
Ra’id blickte ihn verständnislos an, aber für den Bruchteil einer Sekunde flackerte Feindseligkeit in seinen Augen auf. »Mit wem? Meinen Sie diesen Eric? Mit dem war sie nicht zusammen. Nur befreundet.«
»Ach ja?«
»Sie glauben mir nicht?«, fragte Ra’id gereizt. »Sie waren befreundet, mehr nicht.«
»Wie gut kannte sie diesen Eric?«
»Die beiden haben manchmal was zusammen unternommen. Wieso, glauben Sie, dass er was damit zu tun hat?«
Osama sah ihn ausdruckslos an. »Wusste Ihr Onkel, was Leila genau machte?«
»Nein.« Ra’id schnaubte. »Von Eric wusste er nichts, garantiert nicht. Wenn er davon erfahren hätte …« Ra’id schien den Gedanken lieber nicht zu Ende zu denken.
»Was dann?«, hakte Osama nach, aber Ra’id schwieg.
Osama machte sich ein paar Notizen, aber sein Verstand arbeitete fieberhaft. Es erstaunte ihn, dass Abdulrahman Leila die Freiheit gewährt hatte, wann immer sie wollte, aus dem Haus zu gehen, ohne Begleitung und noch dazu mit einer Videokamera. Das passte nicht zu dem Abdulrahman, der eifersüchtig über seine Ehefrau wachte.
»Aber Abdulrahman ließ sie kommen und gehen, wie sie wollte«, sagte Osama.
»Nein, er hat versucht, sie im Haus zu halten, aber sie ist trotzdem gegangen. Er hat gesagt, sie dürfte für den Fernsehsender filmen, wenn sie mich als Aufpasser mitnähme. Aber sie hatte nie große Lust, für den Sender zu filmen. Sie fand’s langweilig. Die meiste Zeit war sie allein unterwegs. Abdulrahman war ja den ganzen Tag im Geschäft und bekam gar nicht mit, was sie machte. Wenn er tatsächlich mal gemerkt hat, dass sie nicht da war, hat er sie auf dem Handy angerufen. Dann hat sie immer gesagt, sie wäre bei Faruha, und
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