Totenverse (German Edition)
herzlich willkommen und bat ihn, Platz zu nehmen, während er den Tee holen ging. Nayir fand es beruhigend, dass sich hier seit seinem letzten Besuch vor zwei Monaten nichts verändert hatte – weder die Pergamenthandschriften an den Wänden, noch die Art, wie sich die Heiligen Bücher auf dem Regal über ihren Köpfen stapelten. Selbst der Duft war derselbe, Holz und Leder und der kühle Geruch der verputzten Wände.
Als der Imam zurückkehrte, trug er zwei Tassen Tee herein. Das mochte Nayir an ihm, dass er keinen Diener haben wollte, dass er wirklich verstanden hatte, was echte Bescheidenheit bedeutete. Er stellte Nayir eine Tasse hin und setzte sich dann wieder hinter seinen Schreibtisch.
»Lange nicht gesehen, Nayir«, sagte er. »Ich hab an Sie gedacht. Meine Frau und ich sind letzte Woche raus in die Wüste gefahren, um einen Freund von uns zu besuchen, einen alten Beduinen. Ich weiß, ich habe Ihnen von ihm erzählt. Er erinnert mich so stark an Sie, als wäre er Ihr Vater.«
»Aus welchem Stamm ist er?«
»Al Murrah.«
»Ach, ich kenne einige Murrah.«
Das Handy des Imam klingelte, und er schaltete es aus. Eine Weile saßen sie in behaglichem Schweigen und lauschten dem quietschenden Ventilator, der in einer Ecke hin- und herschwenkte.
»Also, dann erzählen Sie mir. Wie sieht’s aus?«, fragte Imam Hadi. Seine Stimme hatte keinen besorgten Beiklang, und er blickte nicht so mitleidig wie Onkel Samir. Falls ihm aufgefallen war, dass Nayir abgenommen hatte, dann hatte er beschlossen, nichts dazu zu sagen.
Nayir versicherte, dass alles in Ordnung sei, und kam dann auf den Grund seines Besuchs. Er erzählte dem Imam von den Dokumenten, die er im Labor untersucht hatte, und von der These, dass sie frühere und irgendwie authentischere Versionen des Korans darstellten, obwohl sie doch offensichtliche Fehler enthielten.
»Was für Fehler?«, fragte Imam Hadi.
Nayir erläuterte sie ihm. Imam Hadi lehnte sich in seinem Sessel zurück und faltete die Hände über dem Bauch. »Machen Sie sich keine Gedanken«, sagte er sanft. »Wir wissen um kleinere Abweichungen im Wortlaut des Korans im Verlauf der Jahrhunderte. Und dafür gibt es ganz einfache Gründe. Als die Worte Allahs dem Propheten, Friede sei mit ihm, erstmals offenbart wurden, geschah dies mündlich. Natürlich wurde alles niedergeschrieben, aber die Ersten, die sich mit dem Koran beschäftigten, mussten ihn auswendig lernen, und mitunter schrieben sie ihn unterschiedlich auf. Die Gefährten des Propheten hatten ihre eigenen Versionen zum persönlichen Gebrauch. Aber weil sie den Koran bereits auswendig gelernt hatten, benutzten sie die Niederschriften lediglich als Gedächtnisstütze. Es gibt Bücher, die sich höchst ausführlich mit diesen Fragen befassen.
Wissen Sie«, fuhr er fort, »in jedem menschlichen System muss es Unvollkommenheiten geben. Das eigentliche Wunder, das für mich Allahs Größe bezeugt, ist die Tatsache, dass der Koran selbst unverändert geblieben ist. Und dass sich Muslime über Jahrhunderte hinweg dafür entschieden haben, kein einziges diakritisches Zeichen in dem Heiligen Buch zu verändern.«
»Sie haben recht«, sagte Nayir. Er wusste von den unterschiedlichen »persönlichen« Versionen des Korans, aber er hatte angenommen, sie wären alle verbrannt worden. Ihm war unbegreiflich, warum er nicht in der Lage gewesen war, das Majdi zu erklären, warum er in dieser Frage nicht ebenso ruhig geblieben war wie der Imam jetzt.
»Dem Islam ist schon häufig vorgeworfen worden, er sei widersprüchlich«, sagte der Imam, »oder er sei lediglich die verfälschende Spielart einer anderen Religion oder irgendeine Variante der Wahrheit und nicht die ganze Wahrheit. Aber denken Sie an die Worte Allahs: Wenn Wir ein Zeichen mit einem anderen vertauschen – und Allah weiß am besten, was Er hinabsendet –, sprechen sie: ›Du bist nur ein Erdichter.‹ Aber die meisten von ihnen sind ohne Einsicht . Das bedeutet, dass Allah uns über die Jahrhunderte hinweg in vielerlei Form unterwiesen hat, aber es bedeutet nicht, dass die grundlegende Botschaft sich gewandelt hat. Das tut sie nicht. Die Wahrheit ist immer dieselbe.«
Nayir nickte. Er empfand überwältigende Erleichterung und Dankbarkeit gegenüber dem Imam. Natürlich hatte er das alles auch schon vorher gewusst, aber er brauchte die Versicherung, dass Majdi zu voreilig geurteilt hatte. Ihn hatte verstört, dass Majdis Einschätzung so wissenschaftlich gewirkt hatte
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