Totenverse (German Edition)
Fall wäre es sogar ein Fehler, nicht zu handeln, denn Sie sollten handeln.«
»Sie meinen, um ihre Hand anhalten.«
»Ja«, sagte Hadi. »Das hätten Sie schon längst tun sollen. Wenn Ihnen diese Frau etwas bedeutet, dann ist das nur recht und billig. Und nicht monatelanges Schweigen.« Er betrachtete Nayir ernst, aber freundlich. »Ich glaube nicht, dass Sie Ihr ganzes Leben allein verbringen wollen.«
Nayir war überrascht. Er war sicher davon ausgegangen, dass Hadi ihm raten würde, sich vor einer Frau zu hüten, die mit fremden Männern zusammenarbeitete, einer Frau, die ihm gegenüber so offen war.
»Aber sie ist nicht …«, setzte er an.
»Nein, sie ist nicht so streng im Glauben, wie Sie es sind«, unterbrach Hadi ihn, »aber Sie halten sie für eine gute Muslimin. Und Sie sagten, ihr Vater sei ein gläubiger Mann, Sie wissen also, dass sie aus einer guten Familie stammt. Ich vertraue Ihrer Menschenkenntnis. Und wenn sie gottesfürchtig ist, dann wird sie letztlich einsehen, dass es unschicklich ist, mit fremden Männern zu arbeiten. Sehen Sie, viele Frauen pflegen Umgang mit fremden Männern, weil sie auf der Suche nach einem Mann sind. Und falls diese Frau wirklich eine gute Muslimin ist, wie Sie sagen, dann besteht diese Notwendigkeit für sie nicht mehr, sobald sie mit Ihnen verheiratet ist, weil sie dann ja Sie hat. Sie wird Kinder bekommen und sie wird zu Hause bleiben wollen, um sie großzuziehen.« Imam Hadi breitete die Arme aus. »Es wird sich alles ändern, sobald Sie das Richtige tun.«
Nayir blinzelte und kämpfte gegen ein jähes Gefühl der Traurigkeit an. »Und wenn sich nichts ändert?«, fragte er.
»Dann ist sie nicht die Richtige für Sie.«
Das ist ja gerade meine Angst , dachte er.
»Finden Sie’s heraus«, sagte der Imam. »Machen Sie einen Fehler, wenn es nicht anders geht. Es ist nämlich haram für Sie, Zeit mit einer Frau zu verbringen, sich nach ihr zu verzehren und ungebührlich für sie zu empfinden, wenn sie na-mehram für Sie ist und Sie nicht verheiratet sind.«
Sie plauderten noch eine Weile länger, doch Nayirs Stimmung wollte sich nicht verbessern. Die Traurigkeit folgte ihm zurück zu dem Rover, wühlte in seiner Brust und schwoll immer wieder an wie der wilde Schrei eines armen, verzweifelten Tieres. Er konnte sich nicht erklären, woher diese Stimmung kam. Sie hatte irgendwas mit Katya zu tun und der Vorstellung, dass sie Kinder haben würde. Der Gedanke war für ihn immer hoffnungsfroh gewesen, doch das Gespräch hatte ihn mit Melancholie erfüllt, und einen traurigen, einsamen Moment lang hatte Nayir das Gefühl, dass er nie wieder mit ihr glücklich sein würde.
25
Mit einem verräterischen Seufzer legte Katya die nächste DVD ins Laufwerk. Allmählich hatte sie das Gefühl, dass sie schon viel zu lange in ihrem Büro saß und wahrscheinlich, wenn sie den Kopf mal zum Fenster hinaussteckte, fliegende Autos und Menschen in Raumanzügen sehen würde, weil sie bereits Jahrzehnte damit zubrachte, sich das YouTube-Material einer Frau anzusehen, die von Prostituierten, Drag Queens und öffentlich beschämendem Verhalten besessen gewesen war.
Es war keineswegs alles langweilig. Tatsächlich waren die interessanten Beiträge inzwischen häufiger, und Katya hatte gemerkt, dass Leila als Interviewerin und Kamerafrau immer mehr Talent an den Tag legte. Bei dem letzten Interview, das Katya sich angeschaut hatte, war es Leila sogar gelungen, ihr Gegenüber nicht zu reizen, und die Prostituierte hatte zum Schluss in siegessicherer Manier verkündet, sie glaube nicht, je auf Allahs Vergebung angewiesen zu sein, weil es niemals Sünde sein könne, einen Liebhaber zum Lächeln zu bringen. Doch gerade deshalb hatte Katya mittlerweile den Verdacht, auf der falschen Fährte zu sein. Leila war deutlich weniger streitlustig, was die Wahrscheinlichkeit, dass sie von jemandem, den sie provoziert hatte, im Affekt ermordet worden war, erheblich verringerte. Im Gegenteil, sie war diplomatischer geworden.
Trotzdem hatte Katya die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben.
Die nächste DVD wartete mit einer Überraschung auf. Der Bildschirm zeigte Aufnahmen von Pilgern, die in Mekka um die Ka’aba kreisten. Zuerst dachte Katya, es handele sich wieder um Hintergrundmaterial für Fernsehnachrichten, doch dann wurde ein Titel eingeblendet: Pilgerreise: Ein Mann sucht nach der Wahrheit im Koran .
Ein Text rollte über den Bildschirm: Viele Muslime halten den Koran für das
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