Totenverse (German Edition)
kritisierte Johara nicht und stellte sie nicht infrage. Sie zeichnete nur alles auf, und erst als sie wieder auf dem Sofa im Wohnzimmer saßen und Tee tranken, begann Leila, unangenehme Fragen zu stellen.
»Betrachten Sie sich als Prostituierte?«
Johara schien darauf vorbereitet zu sein, denn ihre Miene blieb gelassen. »Nein«, antwortete sie leicht mechanisch. »Ich prostituiere mich nicht. Prostituierte gehen ohne Ehevertrag mit Männern ins Bett, und das ist für mich inakzeptabel. Ich bin eine traditionelle Frau.«
»Betrachten Sie sich vielleicht als Sklavin?«, fragte Leila. Die extreme Formulierung verblüffte Katya.
Johara sah schockiert aus und antwortete in einem eisigen Tonfall. »Natürlich nicht, wenn ich mit diesen Männern verheiratet bin, bin ich ihre rechtmäßige Ehefrau.«
»Aber Ihre Ehe ist befristet«, stellte Leila sachlich fest. »Und wie Sie selbst gesagt haben, werden Sie mit diesen Männern niemals Kinder haben. Also können Sie eigentlich keine traditionelle Ehefrau sein.«
Zuerst sah es aus, als wollte Johara aufstehen und weggehen, dann wandte sie sich von Leila ab und blickte böse in die Kamera. »Machen Sie das Ding aus«, sagte sie.
Leila reagierte nicht, die Kamera blieb weiter auf Joharas Gesicht gerichtet.
»Ausmachen, hab ich gesagt«, zischte Johara und griff nach der Kamera. Es folgte ein Gerangel, und das Bild wurde schwarz.
Katya starrte auf den Monitor. Sie wusste nicht, wer sie wütender machte – Johara mit ihrer Selbstgefälligkeit oder Leila, die in das Haus dieser Frau ging, die Luxuseinrichtung und die süßen kleinen Hunde bewunderte und sie dann plötzlich mit kritischen Fragen überfiel, die ihre Gastgeberin natürlich in Rage bringen mussten.
Die nächsten paar Beiträge auf der DVD glichen dem ersten. Leila interviewte in jedem eine Prostituierte. Johara war offenbar die Einzige, die von Sommerehen lebte, die anderen Prostituierten waren da prosaischer. Der Schauplatz wechselte jedes Mal, und die Aufnahmen fanden ausschließlich in Wohnungen statt. Aber in jedem Fall gelang es Leila, ihr Gegenüber vor den Kopf zu stoßen und zu reizen, sodass die Interviews gegen Ende ausgesprochen verkrampft wurden.
Während Katya das restliche Material durchsah, wurde ihr klar, was das für die Ermittlungen bedeutete. Leila war unaufhörlich in die Privatsphäre anderer Menschen eingedrungen. Ob auf der Straße oder im privaten Bereich, das Vorhandensein einer Videokamera wurde nur selten auf die leichte Schulter genommen. Es gab zu viele Menschen, für die Leilas Kamera nicht bloß ein Ärgernis darstellte, sondern eine Gefahr. Johara hatte ihr fast in die Kamera geschlagen, und es gab andere Vorfälle, bei denen die Gefilmten sich körperlich gewehrt hatten. Es war mehr als wahrscheinlich, dass mindestens eine oder mehrere Personen gedacht hatten, Leila habe mehr verdient als bloß eine öffentliche Prügelstrafe, und ihre Bestrafung selbst in die Hand genommen hatten. Der Kreis der möglichen Täter war äußerst groß, der schlimmste Albtraum eines jeden Ermittlers: Gut möglich, dass der Täter ein Fremder war, einer der zahllosen Menschen, denen Leila in den letzten anderthalb Jahren begegnet war.
Es war schon spät, die Büros leerten sich – Katya hörte draußen auf dem Gang Leute vorbeigehen und laute Feierabendgespräche. Sie sah auf die Uhr. Ayman würde sie in fünfzehn Minuten abholen, er war bestimmt schon unterwegs, aber sie spürte, dass sich eine Erkenntnis anbahnte, und war vollkommen elektrisiert. Sie wollte noch nicht nach Hause. Neben dem Computer stand die Box mit den übrigen DVDs. Sie hatte erst dreieinhalb gesichtet und dafür schon den ganzen Nachmittag benötigt. Wenn sie nicht ein paar mit nach Hause nahm, würde sie ewig brauchen, bis sie alle durchhatte. Und sie hatte sich heute nicht mal ansatzweise mit ihren anderen Fällen befasst. Rasch schob sie die nächsten drei DVDs in ihre Handtasche, schloss den Rest in ihrem Aktenschrank ein und verließ das Zimmer.
Auf der Treppe begegnete sie Majdi. »Feierabend?«, fragte er.
»Ja, ich werde abgeholt.«
»Sie Glückliche«, sagte er. Er sah überarbeitet aus. »Wir haben gerade Leilas Cousin hergebracht. Er ist jetzt im Vernehmungszimmer, und obendrein gibt es noch einiges an Beweismitteln zu bearbeiten. Das wird eine lange Nacht.«
»Wenn Sie mich brauchen, bleibe ich.«
»Na ja … aber Sie werden doch abgeholt?«, wandte er ein.
»Ich kann bleiben«, sagte sie.
»Nein,
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