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Totenwall

Titel: Totenwall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Meyn
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Frage kamen anscheinend nur Dinge, welche die europäische Frauenwelt gerade erst für sich entdeckte. Die anderen Mädchen aus Ilkas Klasse strebten eine Ausbildung in Buchführung, Stenographie oder im Bankwesen an, Ilka hatte von ihrer Lehrerin sogar Unterlagen vom Handels-Lehrinstitut Grone bekommen, das als erste Adresse in der Stadt galt. Selbst ein Empfehlungsschreiben hatte sie beigefügt. Aber diesen naheliegenden Weg hatte Tilda ihr bereits ausgeredet. Wenn es nach ihr ging, dann sollte Ilka nach Wismar ans erste Frauen-Polytechnikum in Deutschland. Dort bot man das Studium der Architektur sowie eine Ausbildung zur Bauingenieurin oder als Maschinenbauerin an. Als Alternative kam noch das Frauenstudium an der Universität in Kiel in Frage. Über dreißig Studentinnen verteilten sich hier inzwischen auf die Fächer Jura, Philologie, Germanistik, Staatswissenschaften, Mathematik und die Naturwissenschaften. Selbst in Medizin und Zahnmedizin waren neuerdings weibliche Studenten eingeschrieben, und aus London kamen bereits, was Tilda gleich hervorgehoben hatte, die ersten Erfolgsmeldungen über weibliche Ärzte und Operateure.
    Ilka interessierte sich eigentlich für nichts von dem. Ihre Zeit verbrachte sie mit Tanzen und Schreiben. Die Poesiealben und Tagebücher füllten inzwischen ein ganzes Regal. Wenn es nach ihr gegangen wäre …
    Nein, Sören verwarf den Gedanken. Wahrscheinlich war es richtig, dass Tilda ihr Mut machte, Dinge zu wagen, die für das weibliche Geschlecht Neuland bedeuteten. Vielleicht war er nur zu konservativ in seinen Vorstellungen, zu alt. War in den letzten Jahren etwas an ihm vorbeigegangen, das er nicht bemerkt hatte? Wahrscheinlich war es so, obwohl er sich stets als genauen Beobachter seiner Umwelt verstanden hatte. Machten sich nun die zwanzig Jahre Altersunterschied zu seiner Frau bemerkbar? In vielen Punkten hatten sich ihre Ansichten und Vorstellungen seit der Freundschaft mit dieser Frieda Radel verschoben. Nicht unbedingt zum Nachteil, aber sie behielt es für sich, tauschte sich höchstens mit anderen Frauen darüber aus. So wie vorgestern. Nur am Rande hatte er mitbekommen, worüber sich Tilda mit Liane Kronau unterhalten hatte. Ihm hatte sie davon nichts erzählt. Es war um Freizeitaktivitäten gegangen, also etwas, das sie doch eigentlich beide betraf, und Liane Kronau hatte von einem Verein für Nacktkultur erzählt, in dem sie war, und dass sie sich an Sonntagen gerne dem Tanzen, Turnen und Schwimmen ohne störende Kleidung hingab – so, wie Gott sie geschaffen hatte. In Hamburgs Umgebung gebe es bereits mehrere Gelände, wo so etwas möglich sei. Tilda war sogleich Feuer und Flamme gewesen und hatte gefragt, ob sie nicht einmal gemeinsam dorthin gehen könnten. Sören hatte seinen Ohren nicht trauen wollen. Wenn er an ihre gemeinsamen Picknicke dachte, teilweise entfernt von jeglicher Zivilisation, mitten in der Natur … Immer wenn er schwedisch baden wollte, also nackt ins Wasser gesprungen war, hatte sich Tilda geziert, es ihm gleichzutun. Sie war nicht prüde, nicht ihm gegenüber. Aber die Vorstellung, dass doch jemand vorbeikommen konnte, hatte sie die Sache stets mit Zurückhaltung angehen lassen. Und nun das. Dabei waren die Aktivitäten in diesen Freikörper-Kultur-Vereinen noch nicht einmal nach Geschlechtern getrennt. Sören hatte darüber gelesen. Man zeigte sich ganz ungeniert. Angeblich ohne jeden Hintergedanken. Wenn er seine Frau nackt sah, dann verspürte er auch Lust auf ihren Körper. Sören fragte sich, ob dieses Verlangen vor den Augen der Öffentlichkeit ausbleiben konnte. Er bezweifelte es. Es hatte schon seinen Grund, dass die neue Alsterlust mit getrennten Schwimmbassins für Damen und Herren eröffnet hatte. Aber das war etwas anderes. Die Badeanstalt stand ja mitten in der Stadt.
    Nachdem Sören im Stehen zwei Stullen mit Leberwurst gegessen hatte, überlegte er, wie er der Einsamkeit des Abends entkommen konnte. Entweder er widmete sich dem verschlissenen Antriebsriemen seines Zweirads, oder … Ein Blick auf die Uhr, und sein Entschluss stand fest. Mit irgendwem musste er sich austauschen. Agnes war noch mit dem Abwasch beschäftigt. Flüchtig steckte er den Kopf zur Tür herein: «Wenn Mathilda fragen sollte: Ich bin bei Herrn Hellwege. Es kann später werden.»
     
    «Was Frauen betrifft, werde ich dir keine Ratschläge geben können.» Martin Hellwege nuckelte genüsslich an seiner Zigarre. «Ich kenne diese Frieda nicht, und nach

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