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Totenwall

Titel: Totenwall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Meyn
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bürgerlichen Namen der gemeldeten Mädchen waren jeweils in Zeile vier notiert und hatten meist nichts mit ihrem Künstlernamen zu tun. Direkt darunter begann die Reihe der Kontrollstempel, welche die vorgeschriebenen medizinischen Untersuchungen dokumentierten. Anzeigen, Vorstrafen, alles war penibel aufgeführt. Sörens Blick huschte von Seite zu Seite, doch keines der Gesichter trug die markanten Züge der geheimnisvollen Gräfin. Er kam sich vor wie ein Freier, dem man einen Katalog zur Auswahl vorgelegt hatte.
    «Eine Gräfin oder eine Olga haben wir nicht», sagte Polizeihauptmann Schott, der Chef der Sittenpolizei, während Sören weiterblätterte. Schott war ein schneidiger Bursche mit buschigen Augenbrauen und, dem Bart nach zu urteilen, ein kaisertreuer Geselle. Seine scharfe Stimmlage versuchte zu kompensieren, was ihm an Körpermaß fehlte. Andresen, der neben ihm stand, überragte ihn um Haupteslänge.
    «Wie viele sind es?», fragte Sören angesichts der Bücher vor ihm.
    «Etwa vierhundert Registrierte, davon die Hälfte mit Schein. Die anderen sind entweder illegal oder nicht mehr in Erscheinung getreten.»
    «Was denken Sie, wie viele wirklich in der Stadt dem Gewerbe nachgehen?» Er war bei einer Annie angelangt, angemeldet in der Lotusblüte. Ein rundes Mondgesicht grinste ihn an.
    «Das kann man schwer schätzen», erwiderte Schott. «Gehen Sie von mehr als tausend Individuen aus, die regelmäßig die Beine breit machen.» Seine Worte hatten etwas bewusst Abfälliges, Schicksale schienen ihn nicht zu interessieren. «Die Zahl der Frauenzimmer, die hin und wieder eine Gelegenheit nutzen, dürfte deutlich darüber angesiedelt sein. Wir können nur zählen, was zur Anzeige kommt oder wen wir erwischen.»
    Bei Franzi war vermerkt, dass sie zu Gewalttätigkeit neige. Das Bild zeigte ein Mädchen von höchstens zwanzig Jahren. Die geflochtenen Zöpfe trug sie, ähnlich wie Liane, zu einem hohen Knäuel aufgetürmt.
    «Was haben Ihre Erkundungen ergeben?», erkundigte sich Andresen, der hinzukam.
    «Wir müssen noch einmal von vorne beginnen», antwortete Sören. «Die Grundbücher und Kataster sind nicht auf dem neuesten Stand.»
    «Das gibt es doch nicht.»
    «Anscheinend doch. Der Großteil der Gebäude existiert nicht mehr. Man wird die meisten Grundstücke auch nicht neu bebauen können, da die Häuser für den Bau der Ringbahn abgerissen wurden.»
    Die «schüchterne Kiki» sah alles andere als schüchtern aus. «Zur Fahndung ausgeschrieben» war mit roter Tinte vermerkt. Sören blätterte schneller. Die Augen von Gräfin Olga würde er auf den ersten Blick erkennen.
    «Dann sind die Besitzer enteignet worden», folgerte Andresen. «Dafür gab es doch eine Kommission …»
    «In Eimsbüttel sind noch einige Gebäude existent. Die liegen zwar in der Nähe des in Bau befindlichen Abzweigs der Strecke, aber sie machen auf mich nicht den Eindruck von Spekulationsobjekten. Die Immobilien sind teils in beklagenswertem Zustand, damit lässt sich kein Profit erwirtschaften. An der Marthastraße gab es eine Offerte.» Er reichte Andresen die notierte Adresse. «Da sollten wir anfangen.»
    Bei Elvira war sich Sören sicher, dass er sie schon einmal gesehen hatte. Er versuchte sich zu erinnern. Drei bis vier von ihnen vertrat er im Jahr vor Gericht, wenn es hart auf hart kam. Meist wurden die Frauen von ihren Freiern denunziert, wenn sie nicht das gemacht hatten, was von ihnen verlangt wurde, oder wenn die Männer gewalttätig geworden waren. Es traf immer nur die Frauen. Vor allem jene, die keine Beschützer hatten. Sören stolperte über den Namen Olja, aber Olja hatte keine Ähnlichkeit mit der Gräfin. Außerdem musste sie über sechzig sein.
    «Und was ist, wenn der Profit nicht durch eine passable Vermietung oder den weiteren Verkauf, sondern durch die bevorstehende Niederlegung und die zu erwartende Entschädigung der Enteignung erzielt werden sollte?»
    Andresen war gar nicht so dumm, dachte Sören. Den gleichen Gedanken hatte er auch schon gehabt. Aber das setzte voraus, dass die vormaligen Besitzer zum Zeitpunkt der Veräußerung nicht wissen konnten, was ihre Grundstücke für einen wirklichen Wert gehabt hatten. Warum auch immer. «Genau das werden wir überprüfen.»
    «Nichts Passendes gefunden?», fragte Schott höhnisch, nachdem Sören den letzten Band zugeschlagen hatte.
    Wenn es witzig gewesen wäre, hätte Sören gelacht. Ihm war nicht danach. «Ist wohl nur etwas für kleine Männer»,

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