Totenwall
verlief die Trasse dort bis zum Schlump unterirdisch.
Sören wählte die nördliche Strecke um die Alster, fuhr über die Weidestraße bis zum Osterbekkanal, kreuzte den Alsterlauf an der Nordseite des innerstädtischen Sees, fuhr dann weiter Richtung Klosterstern und über das Jungfrauenthal in die Isestraße.
An keiner anderen Stelle der Stadt – vielleicht abgesehen von der Strecke entlang des Baumwalls – war der überirdische Verlauf der Ringbahn so weit fortgeschritten wie hier. Die stählerne Konstruktion war so gut wie fertig, nur an vereinzelten Stellen, den Kreuzungspunkten, waren Steinmetze noch damit beschäftigt, die steinernen Sockel der Brückenauflieger mit rustikalen Bossen zu verkleiden. Das Viadukt wirkte wie eine auf Stelzen ruhende Trasse, die dem leichten Schwung des Straßenzugs folgte, welchen man aber nur erkennen konnte, wenn man direkt neben dem Stützensystem stand und versuchte, die schier endlose Flucht der Stützen in Deckung zu bringen. Die Bahntrasse lag in gebührendem Abstand zu den gewaltigen fünfgeschossigen Wohnhäusern, die am Straßenrand entstanden. Viele der Häuser waren im Rohbau bereits fertig, und Anzahl und Folge der riesigen Fensteröffnungen zeugten von Wohnungen enormer Größe. Die Fassaden endeten in geschwungenen, teils mit Voluten geschmückten Giebeln, und auch der restliche Bauschmuck zeigte üppige, in der Mehrzahl florale Formen und Motive. Andere Bauten sprangen zur Mitte hin zurück, sodass die Fassaden wie um einen offenen Hof gruppiert waren, was dem Straßenzug einen eigenwilligen Rhythmus verlieh. Die Fahrbahnen lagen getrennt zu jeder Seite des Viadukts, und je eine Reihe frisch gepflanzter Bäume trennte die Trottoirs und Vorgärten vom zentralen Verkehrsfluss, aber bereits jetzt nutzten einige Passanten den Weg unter der stählernen Konstruktion und flanierten wie auf einer Promenade.
Sören fuhr über die Hohe Weide weiter bis zur Christuskirche. Auch hier waren die Bauarbeiten allgegenwärtig. Allerdings wurde die Stichstrecke, die bis zum Eimsbütteler Marktplatz führen sollte, unterirdisch angelegt. Dafür hatte man Schäferkamps- und Fruchtallee aufgerissen, ein Blick über den Bauzaun zeigte die mächtige Rinne, die wie ein Kanal aussah. Zu beiden Seiten stützten Wände aus hölzernen Bohlen das Erdreich ab, unterbrochen von Rohren und Sielen der Kanalisation, die dem geraden Verlauf der zukünftigen Untergrundbahn noch ein Hindernis waren, aber man konnte sich bereits vorstellen, wie die unterirdische Trasse, bereinigt vom Geflecht der zivilisatorischen Versorgung, einmal aussehen würde.
Es dauerte ein wenig, bis Sören das fand, was er suchte. Da die Straßenzählung hier in Eimsbüttel in die entgegengesetzte Richtung lief und teilweise sogar gegenläufig zählte, musste er sich erst orientieren. Außerdem kannte er sich in dem Gebiet nicht so gut aus und musste ständig den Stadtplan zu Hilfe nehmen, was sich als problematisch erwies, da der Plan alles andere als aktuell war. Die Stadt veränderte sich inzwischen auch in den Vororten schneller, als man in der Lage war, es kartographisch zu dokumentieren. Kein Wunder, lebten doch inzwischen mehr als eine Million Menschen in der Stadt – und Hamburg wuchs unaufhörlich.
Wider Erwarten standen die Häuser zwischen Marthastraße und Lindenallee noch. Es handelte sich dabei um vier verwaiste Budenreihen in kläglichem Zustand. An einer der Buden war eine Verkaufsofferte angeschlagen. Sören notierte sich die angegebene Adresse und fuhr weiter zur Fettstraße. Auch hier existierten die Gebäude noch, im Gegensatz zur Marthastraße waren sie sogar bewohnt. Nichts deutete auf einen baldigen Abriss hin, obwohl die Häuser keinesfalls den Glanz der benachbarten Fassaden besaßen. Die letzte Adresse lag in der Schäferstraße, einer engen Gasse, die im Bogen von der Allee zum Kleinen Schäferkamp führte. Die Bebauung war größtenteils noch keine fünfzig Jahre alt, es handelte sich um einfache Mietshäuser, wie sie bis zum Ende des letzten Jahrhunderts überall in den Stadterweiterungsgebieten gebaut worden waren. Auf den Höfen hatten sich Handwerksbetriebe und kleinere Produktionsstätten angesiedelt. Backsteinfassaden waren in der Überzahl. Das betreffende Gebäude war eines von vielen. Nichts unterschied es von den anderen Häusern in der Straße.
Sören blätterte von Uschi zu Lilly, von Lilly zu Dagmar und von Dagmar zu Viola, Viola der Großen, wie sie sich nannte. Die
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