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Totenwall

Titel: Totenwall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Meyn
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versorge Sie mit allen Informationen. Aber meine Quellen bleiben anonym.»
    «So wie der Name des Anrufers.» Andresen grinste. Er hatte verstanden.
     
    Die Brille drückte nicht mehr auf dem Auge, ein gutes Zeichen. Der Tag in der freien Natur hatte wie ein Jungbrunnen auf ihn gewirkt. Das Hämatom hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst, und selbst die Rippenschmerzen waren am nächsten Morgen verflogen, und so hatte Sören beschlossen, dass die zweiradfreie Zeit damit zu Ende sei, und hatte seine Gray Fellow aus der Remise geholt. Als wollte es sich dafür bedanken, war das Vehikel dann auch sofort angesprungen. So bequem die Fahrerei mit einem Automobil sein mochte, der Fahrtwind war bei den momentanen Temperaturen eine willkommene Entschädigung für den Mangel an Luxus hinter dem Lenker. Gegen Mittag zeigte das Thermometer bereits 25 Grad im Schatten. Sören kurvte um die Straßenbahnwaggons, die sich vor dem neuen Centralbahnhof stauten, dann bog er auf den Steindamm ab und fuhr weiter bis zum Mühlendamm, bis er schließlich in die Hohenfelder Allee einschwenkte. Ab hier ging es nur noch im Schritttempo weiter, da die Straße immer wieder durch Erdaufschüttungen blockiert war. Mit einem Automobil wäre spätestens hier kein Weiterkommen mehr gewesen. Vorsichtig rangierte er sein Gefährt an den Erdhaufen und Materiallagern vorbei, und der Motor bockte unwillig, wie er es immer bei langsamer Fahrt tat.
    Erdausschachtungen und Wälle der zukünftigen Ringbahn wechselten sich neben dem Straßenzug ab. Auf der anderen Seite lag der Damm der Lorenbahn, die bis zum Kuhmühlenteich führte und eine Schneise durch die Bebauung am Mundsburger Kanal schnitt. In der Mehrzahl waren es kleine Villen wie an der Feldbrunnenstraße, die sich Schulter an Schulter stützten, deren Reihe aber hier am Kanal an besonderen Stellen durch Gassen und Wege unterbrochen wurde. Sören hielt nach den gesuchten Gebäuden Ausschau, aber genau dort, wo besagte Häuser hätten sein müssen, klaffte eine Lücke. An zwei mächtigen Kränen hingen die Eisenträger des Viadukts, das hier die Häuserzeilen durchschnitt. Arbeiter waren damit beschäftigt, die Stützen und Bögen miteinander zu verbinden. Sören vergewisserte sich noch einmal, ob er sich verlesen hatte, aber es gab keinen Zweifel. Die Häuser zu den notierten Hausnummern an der Güntherstraße existierten nicht mehr. Man hatte sie abgerissen.
    An der Uhlandstraße wiederholte sich das Schauspiel. Wieder hätte die gesuchte Hausnummer an der Stelle liegen müssen, wo sich nun das Viadukt durch die Häuserzeilen schob. Er erkundigte sich bei den Bauarbeitern. Einer von ihnen erinnerte sich, weil er bei der Fundamentierung des Viadukts geholfen hatte. Vor einem knappen Jahr sei das Haus niedergelegt worden, erzählte er.
    Als Sören zu seiner Gray Fellow zurückkehrte, bestaunten zwei Bengel das aufgebockte Gefährt, dessen Motor sich im Leerlauf mit einem stotternden
Tschabumm-Tschabumm
schüttelte.
    «Wie schnell fährt das?», fragte der Ältere der beiden, als Sören seine Brille zurechtrückte. Sie mussten etwa in Roberts Alter sein, und Sören überlegte kurz, warum sie hier an diesem nicht ungefährlichen Ort ohne Aufsichtspersonen spielen durften. Die Uferböschung des Kanals fiel steil ab, und er bezweifelte, dass sie schwimmen konnten. Es konnten so oder so viel zu wenige Kinder schwimmen. Erst gestern hatte er in der Zeitung gelesen, dass ein zehnjähriger Junge im Veringkanal ertrunken war, und am Abend hatte er dann lange mit Mathilda über die Bademöglichkeiten gesprochen, deren es in der Stadt immer noch viel zu wenige gab. Robert konnte auch noch nicht schwimmen, und öffentliche Badeanstalten gab es bislang nur in Barmbeck, am Lübecker Tor und an der Hohen Weide. Die Kinder aus Eppendorf und Harvestehude hatten hingegen noch keine Bäder in der Nähe und tummelten sich während der Sommermonate unbeaufsichtigt in der Alster und in den Kanälen. Seit einiger Zeit diskutierte man zwar die Möglichkeit, eine Badegelegenheit im See des Stadtparks zu schaffen, aber geschehen war bislang noch nichts.
    «Was glaubt ihr denn?», fragte Sören zurück.
    «Bestimmt tausend», gab der Ältere vorlaut zu verstehen und nickte seinem Freund oder Bruder auftrumpfend zu.
    «Tausend was?»
    «Na, tausend», wiederholte der Bursche die für ihn ungeheure Zahl, ohne auch nur die Vorstellung einer Relation zu haben. Irgendwo hatte er die Zahl aufgeschnappt und behalten, weil sie ihm

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