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Totenwall

Titel: Totenwall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Meyn
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imponiert hatte. «Meter», fügte er schließlich hinzu, weil es ihm naheliegend erschien oder weil er kein anderes Streckenmaß kannte.
    Sören nickte. «Ich denke schon, dass der Motor noch tausend Meter schafft. Zumindest hoffe ich es.» Er lächelte die beiden an, die ihn mit offenem Mund anstarrten, schob das Gefährt vom Ständer, betätigte den Gaszug und knatterte mit mordsmäßigem Getöse Richtung Eilenau davon.
    Vom Lerchenfeld aus hatte er die große Mundsburger Kreuzung vor Augen und musste automatisch daran denken, dass er es bislang versäumt hatte, sich Davids Entwurf zeigen zu lassen. In spätestens zwei Jahren würde sein Bahnhof die leere Brachfläche hier schmücken. Er war noch nicht dazu gekommen, nein, er hatte es schlicht vergessen, korrigierte er seine Entschuldigung. Er sah David viel zu selten und versprach sich selbst, das schnell zu ändern … spätestens morgen. Dann bog er nach rechts in die Oberaltenallee ab und steuerte in Richtung Barmbecker Markt.
    Bislang war die Oberaltenallee eine schmale Gasse gewesen, auf der gerade mal zwei Fuhrwerke einander passieren konnten, aber den Bau der Ringbahn hatte man zum Anlass genommen, den Straßenzug zur Entlastung der Hamburger Straße deutlich zu verbreitern. Nach etwa zweihundert Metern hörte er hinter sich ein dröhnendes Motorengeräusch, und kurz darauf setzte ein Zweirad an, ihn zu überholen. Der junge Fahrer trug eine lederne Kappe, jedoch keine Brille. Er grüßte lässig mit der rechten Hand, während er eine Zeitlang gleichauf neben Sören blieb und neugierig dessen Gefährt beäugte. Den Tank des blauen Motorfahrrads zierte der Kopf eines Indianers, wie Sören erkennen konnte, und das Gefährt war ähnlich laut, auch wenn es nur einen Zylinder hatte. Die Handbewegung seines Nebenmanns bedurfte keiner Erklärung. Der Kerl wollte eine Wettfahrt, ganz klar. Sören hatte die
tausend
im Ohr, als er tat, was er noch nie zuvor getan hatte: Er zog den Gaszug bis zum Ende auf.
    Was er bislang immer als donnerndes Grollen vernommen hatte, konnte man im Nachhinein nur noch als leises Schnurren bezeichnen. Plötzlich lebte seine Twin auf, legte alle Launen, die sie bei langsamer Fahrt zu haben pflegte, beiseite und marschierte los, dass der Vorwärtsdrang kein Ende zu nehmen schien. Sören drang in Geschwindigkeitsbereiche vor, die er nie für möglich gehalten, geschweige denn erlebt hatte. Er blickte krampfhaft geradeaus, um jedes Hindernis früh genug erkennen zu können, aber der Weg schien frei, und die Gray Fellow wurde schneller und schneller. Die zwei Zylinder des Motors brachten ein martialisches Hämmern hervor, und als sich Sören ein wenig an die Geschwindigkeit gewöhnt hatte, wagte er es für einen kurzen Moment, sich nach seinem Herausforderer umzuschauen. Von dem blauen Indianer war durch die Staubfahne, die er hinter sich aufwirbelte, nichts zu erkennen. Langsam drosselte er das Tempo, streichelte dankbar, als wäre es ein Pferd, den Tank der Maschine und hörte sich selbst ein lobendes «besser als tausend» flüstern.
    Als er kurze Zeit später den Barmbecker Markt erreicht hatte, war von seinem Hintermann immer noch nichts zu sehen. Er hatte gewonnen, so viel war klar; wahrscheinlich war sein Herausforderer aus Scham irgendwo abgebogen.
    Langsam legte sich Sörens Aufregung wieder, und er nahm seine Umgebung in Augenschein. Auch hier am Markt ordnete sich alles den Bauarbeiten für die Ringbahn unter. Und er hatte es längst geahnt: An der Stelle des gesuchten Gebäudes klaffte an der Ecke Dehnhaide eine riesige Lücke, durch die sich die stählernen Streben, Stützen und Widerlager des Viadukts schoben. Am niedergelegten Hotel am Burstah hatte er sich noch nichts gedacht, aber nun verdichtete sich die Vermutung, die er bereits an der Uhlandstraße gehegt hatte. Alle Gebäude waren aufgrund des Ringbahnbaus abgerissen worden. Er versuchte, sich den hiesigen Katasterplan vor Augen zu holen, und eine Menge Fragen schossen ihm durch den Kopf. Warum hatte es keine Einträge in den Grundbüchern gegeben? Oder waren sie noch nicht aktualisiert? Es war ihm vorhin schon aufgefallen, ohne dass er sich etwas dabei gedacht hatte, aber nun war er sich sicher: Die Bahntrasse war in den Plänen des Vermessungsbureaus der Baudeputation noch gar nicht eingezeichnet. Sören blickte auf seine Notizen. Es fehlten noch die Grundstücke in Eimsbüttel, aber die lagen seiner Erinnerung nach deutlich westlicher als die Bahnstrecke. Außerdem

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