Totenzimmer: Thriller (German Edition)
einer Viertelstunde fertig, ich schaue ihn mir dann auf dem Rückweg an.«
Liebes Tagebuch,
(Gott, wie kitschig, »liebes Tagebuch« zu schreiben. Geil, muss ich wieder tun.) Willkommen in der Welt meiner Geheimnisse.
Schon vor langer Zeit hätte ich mich dir anvertrauen sollen, damals war ich aber wohl noch nicht dazu bereit, über mich selbst zu schreiben und das alles schwarz auf weiß vor mir zu sehen. Vielleicht ist das aber sogar ein Vorteil, denn so kriegst du mich nackt zu sehen, destilliert durch die Erinnerung und mit ausreichend Weitblick.
Natürlich gibt es Bereiche aus meiner Kindheit, an die ich mich jetzt nicht mehr bis ins letzte Detail erinnere, andere leuchten dafür aber umso klarer und erinnern mich daran, wie vielschichtig Geheimnisse sein können.
Um es frei heraus zu sagen: Die ganze Zeit über allein mit ihnen zu sein, ist einfach unerträglich. Man braucht einen Zeugen, einen Mitwisser; das ist ein Drang, eine Verlockung, mindestens so stark wie Evas Apfel. Es ist wie ein Kitzeln im Bauch, ein innerer Druck – je mehr Geheimnisse, desto höher der Druck, doch weiht man einen anderen in seine Geheimnisse ein,
nur einen
, und teilt sie mit jemandem, fühlt es sich an, als würde der Druck im innersten Kessel abnehmen. Man ist erleichtert, fühlt sich fast so, als würde man weniger wiegen, weil einem jemand eine Last abgenommen hat. Aber es darf nur einen anderen geben, einen Zeugen, einen Mitwisser –
niemals mehrere
.
Ich bin nicht der Einzige, dem das so geht. Es heißt nicht umsonst,
sich das Herz erleichtern
, was man ja tatsächlich auch tut, wenn man seine Sünden gesteht. Sünden, Scham und Verbote sind die Basis aller Geheimnisse. Nur behält man die meistens für sich, wenn man nicht dumm oder krank ist.
Obwohl ich weder dumm noch krank bin, laufen die Dinge in meiner Welt nicht ganz so ab. Ich erleichtere natürlich auch mein Herz, aber nicht von den Sünden und der Scham, sondern nur von dem Verbotenen – ich meine dem, was vor dem Gesetz verboten ist. Mein Gewissenhat nichts gegen Sünden, und ich habe, wie man so schön sagt, kein Schamgefühl; darum müssen andere sich kümmern, was sie auch tun. Manche verbringen ihr ganzes Leben damit. Ich habe mich nie geschämt – und wenn doch einmal, dann für andere. Für ihre Dummheit und Genügsamkeit, darüber, wie wenig die Menschen fordern und wie schlecht sie darin sind, Glück und Freude in ihr Leben zu bringen. Sie geben sich einfach immer mit viel zu wenig zufrieden.
Was muss, das muss, war immer mein einfaches und ehrliches Lebensmotto.
Ich verstehe zum Beispiel den Onanierer, der sich schämt und lieber sterben würde als zuzugeben, was er tut, wenn die Hände erst unter der Decke sind. Würde ich onanieren, stünde das sicher auch nur hier und nirgendwo sonst.
Aber das tue ich nicht. Es ist so beschämend, so einfach und billig.
Wenn mich als kleiner Junge das Verlangen überkam, schlich ich mich zu meiner Mutter. Sie hielt den Mund und verriet unser Geheimnis nie, dafür war ihre Scham viel zu groß. Sie schämte sich für mich und für sich. Ich aber schämte mich nur für sie; für ihre Hilflosigkeit; ihre Scham darüber, dass ihr Mann sie nicht haben wollte; und dafür, eine Mutter zu haben, die das alles schweigend und wortlos geschehen ließ. Sie würde unser Geheimnis niemals verraten, denn wenn sie das tat, wäre ihr Leben in dieser Scheißstadt so gut wie vorbei. Dafür lohnte es sich zu kämpfen.
Hätte meine Mutter, die Frau des Oberarztes, zugegeben, ja öffentlich eingestanden, dass sie es mit ihrem dreizehnjährigen Sohn trieb, wäre sie in jeder Provinzstadt fertig gewesen, erst recht in diesem Kaff Bogense. Das sei sicher nur ihre kranke Fantasie, würden die Leute hinter ihrem Rücken sagen und ihr Blicke zuwerfen, mit denen sie sie am liebsten einsperren oder auf die Titelseite der Regenbogenpresse verbannen würden, damit die Nachricht dort, zwischen all den anderen unglaubwürdigen Meldungen aus einer unglaubwürdigen Welt unterging. Das wäre das Ende ihrer traurigen Bekanntschaften mit den anderen Oberklassefrauen und Arztgattinnen, deren Gesellschaft meine Mutter beständigsuchte und ohne die sie – wie sie selbst meinte – nicht mehr leben konnte. Sie müsste wegziehen, weit weg, sich das Leben nehmen, sich auf die eine oder andere Weise selbst entfernen. All das wusste sie ganz genau, ich habe ihr das nie sagen müssen. Sie war eine begabte Frau, begabt, aber erbärmlich und
Weitere Kostenlose Bücher