Totenzimmer: Thriller (German Edition)
…
Unzählige Male, ich kann mich kaum mehr erinnern.
»Eigentlich alles, was aus Ihrem Mund kommt.« Ich schloss die Augen und hätte mir im gleichen Moment die Zunge abbeißen können. Hätte ich doch nur eine Tasse Kaffee bekommen. Und eine Zigarette. Ich drehte ihm den Rücken zu, und als ich wieder die Augen öffnete, blickte ich direkt in das Lächeln des kleinen John. Ich legte meine Hand über seine, die die Taschenlampe hielt, so dass ich den Lichtschein dirigieren und mir einige Stellen in ruhigerem Tempo etwas genauer anschauen und dabei noch einmal nachdenken konnte.
»Sehen Sie hier«, sagte ich schließlich, ohne ihn anzusehen. »Die meisten Wunden sind frisch, ohne jedes Anzeichen einer Wundheilung, doch bei näherem Hinsehen gibt es an einigen Stellen Schorfbildung und sogar Granulationsgewebe – das ist frisch gebildetes Gewebe, das etwas körnig aussieht, weil sich dort so viele neue Blutgefäße bilden. Im Heilungsverlauf sieht man das nach etwa vier Tagen.«
»Das gesuchte Mädchen wird seit vier Tagen vermisst«, sagte Karoly hinter mir mit kühler Stimme.
Das bedeutete … nein, ich wollte nicht daran denken und es schon gar nicht laut aussprechen.
Komm schon, Karoly
, dachte ich.
Sag du es, du kannst doch gar nicht anders.
»Dann hat dieser Kerl also schon vor vier Tagen angefangen, auf sie einzustechen«, sagte Karoly wie erwartet.
»Richtig. Könnte ich hier auf dem Hals ein bisschen mehr Licht haben?«
Als der Lichtschein auf den Hals der Toten fiel, sah ich dort weder Abschürfungen noch Unterblutungen, wohl aber eine seltsame, schwache Rotfärbung, die ganz und gar nicht an übliche Würgemale erinnerte. Sie sah eher aus wie der Abdruck einer Hand, die in verdünnten Rote-Beete-Saft getunkt worden war. An einigen Stellen waren ein paar hellere Punkte zu sehen.
»Was ist das?«, fragte der kleine John.
Ich schüttelte den Kopf, ohne den Blick von ihrem Hals zu nehmen. »Keine Ahnung, habt ihr da Proben genommen?«
»Nein, Augenblick.« Der kleine John war augenblicklich mit zwei befeuchteten Wattetupfern zur Stelle.
»Sieht aus wie der Abdruck von einem Noppenhandschuh«, sagte der große John, der sich jetzt über die Leiche gebeugt hatte. »Als hätte er sie mit Noppenhandschuhen berührt, also erwürgt, und dabei vergessen, dass er vorher gerade noch mit Wasserfarbe gespielt hat. Die Noppen sind wasserundurchlässig, weshalb diese Stellen heller sind.«
Ich stellte mir weiße Baumwollhandschuhe mit blauen Gumminoppen vor, hatte aber keine Ahnung, ob diese Dinger wirklich »Noppenhandschuhe« hießen. Meine Mutter benutzte solche Handschuhe für die Gartenarbeit, und bei meinem Großvater, einem pensionierten Schweinezüchter aus Rødekro, stand eine ganze Schachtel davon im Stall – Schweinezüchter aus Rødekro haben Hände, die sich mit der Zeit in Handschuhe verwandeln.
»Wir sehen diese Abdrücke oft, also ohne Farbe«, ergänzte Karoly. »Noppenhandschuhe sind bei Kriminellen sehr populär. Die sind billig und leicht zu kriegen.«
Ich sah mir den merkwürdigen Abdruck lange an. Der Täter hatte sie zweifellos am Hals gepackt, aber es gab keine Blutungen in der Unterhaut. Ich nahm zwei Pinzetten aus meiner Tasche, trat hinterihren Kopf, hockte mich hin und zog mit der Pinzette vorsichtig das obere Augenlid hoch, so dass ich die Bindehaut sehen konnte. Sie war blass und ohne punktförmige Einblutungen. Ich blickte zum kleinen John hinüber. »Da sind keine Petechien.«
»Diese punktförmigen Blutungen?«, fragte er, wenn auch etwas unsicher. Er hatte gut aufgepasst und wollte mir das zeigen.
»Ja, und die sind in der Regel bei Gewalteinwirkung auf den Hals da, also beim Erwürgen. Wenn ein Opfer erst nach dem Tod erwürgt wird, entstehen keine Blutungen.«
»Es ist aber doch wohl ein bisschen merkwürdig, jemand zu erwürgen, der schon tot ist«, sagte der kleine John.
Ich zog das untere Augenlid herunter, wiederholte den Vorgang am anderen Auge, überprüfte den Bereich hinter den Ohren und zum Schluss die Mundhöhle, aber es gab definitiv keine Petechien. »Nicht, wenn man wütend ist«, antwortete ich. »Und auch nicht, wenn man sich nicht ganz sicher ist, ob das Opfer wirklich tot ist.«
Ich drehte das Mädchen vorsichtig auf die Seite und legte meine Finger um ihren rechten Unterarm. Sie lag nun mit der Vorderseite zu mir, so dass ich mich vorbeugen und einen Blick auf den Rücken werfen konnte. Der kleine John hatte bereits die Taschenlampe darauf
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