Toter geht's nicht
eine «Sandra» ohne Foto eine Freundin von mir sein. Ich kenne keine Sandra. Ich bestätige ihre Freundschaft trotzdem. Ich sehe das sportlich. Mit ihr habe ich nun schon 137 Stück. Jetzt sehe ich, dass sie mir zusätzlich zu ihrer «Freundschaftsanfrage» auch noch eine Nachricht geschickt hat:
Hallo Henning. Habe dich gerade hier entdeckt. Vermutlich wirst du mich nicht (mehr) kennen. Wir waren früher auf der gleichen Schule. Ich bin drei Jahre jünger, und wir hatten kaum Kontakt. Ich kann mich aber noch sehr gut daran erinnern, wie du bei deiner Abiturfeier gesungen hast. Ich war damals in der 10., und da waren wir Mädels alle sehr von dir beeindruckt. Da musste ich gerade amüsiert dran denken, als ich dein Foto hier entdeckt habe. Dir alles Gute, liebe Grüße, einfach nur mal so,
Sandra
Na ja …
Ich gebe zu, ein klein wenig geschmeichelt fühle ich mich schon.
«Beeindruckt» also war sie von mir … aha. Und das, obwohl dieser Gesangsauftritt in der Schule bald zwanzig Jahre her ist und ich aus heutiger Sicht eines der peinlichsten Lieder der Popgeschichte vorgetragen habe. Mit der unschuldigen Verlegen- und Verwegenheit eines neunzehnjährigen Schülers habe ich auf der Bühne der Aula gestanden und «Wind of Change» von den Scorpions geschmettert. Und als Zugabe «Lass uns leben» von Marius Müller-Westernhagen. «Das Leben ist gar nicht so schwer …» Hach!
Ich konnte die Nächte vor meinem großen Auftritt nicht schlafen und fühlte mich am Ende wie ein kleiner Popstar. Meine Mitschüler feierten mich, und für einen kurzen intensiven Moment schien mir klar zu sein, dass es für mich in Zukunft nichts anderes geben würde, als Weltstar zu werden.
Sandra? Ich kann mich an keine Sandra erinnern. Leider hat sie auf ihrer Facebookseite kein Foto hochgeladen. Vielleicht würde ich sie dann wiedererkennen. Trotzdem schreibe ich ihr zurück:
Hallo, Sandra, vielen Dank für Deine Nachricht. Du hast recht, so richtig habe ich kein Bild von Dir. Ist ja auch schon eine Weile her. Habe mich aber trotzdem über Deine schmeichelhafte Mail gefreut. Auch wenn Du heute vermutlich nicht mehr so beeindruckt von mir wärst. Liebe Grüße zurück, Henning
Es dauert nur eine gute Minute, dann kommt eine neue Nachricht:
Wer weiß? Hässlicher bist Du jedenfalls nicht geworden, wenn ich Dein Bild so betrachte …
Huch, was ist das denn jetzt bitte? Wie geht man denn mit so etwas um?
Minutenlang starre ich auf ihre Nachricht und grüble darüber nach, ob und was ich ihr darauf antworten möchte. Dann klingelt das Telefon. Es ist nicht Sandra. Es ist meine Mutter. Ich bin zurück im wahren Leben und schreibe lieber mal nicht zurück.
Onkel Ludwig Körber, die Petze, die meinem Vater alles weitertratscht, hat an diesem Montagmorgen zur Lagebesprechung in sein Büro geladen. Körber, Teichner, Miriam Meisler und ich sitzen um einen alten Holztisch herum, auf dem Frau Dressel, die rührige Sekretärin, dünnen Kaffee und bröseliges Gebäck serviert hat.
«Henning, gib uns doch bitte einmal einen Überblick über den Stand der Ermittlungen», eröffnet Onkel Ludwig die Sitzung. Ich hatte es befürchtet.
«Viel ist es leider immer noch nicht, doch ein bisschen schon. Wir wissen, dass Klaus Drossmann vor seinem Tod mehrmals versucht hat, Herr Bärt über die Agentur zu erreichen. Herr Bärt gibt an, seit Drossmanns Umzug nach Mannheim keinen Kontakt mehr mit ihm gehabt zu haben.»
«Und, stimmt das?», fragt Ludwig nach.
«Keine Ahnung», sage ich. Wieder ist so eine Leere im Kopf. Wieder sind mir all diese Fragen egal. Ich blicke zu Berlusconi, warte auf einen Furz und habe keine Lust weiterzureden.
Miriam kommt mir zu Hilfe und nimmt den Faden auf, wo ich ihn verloren habe.
«Klar ist jedenfalls, dass sich Drossmann kurz vor seinem Tod häufig in der Nähe von Herr Bärt aufgehalten hat. Im Sensenmannkostüm war er auf der Schottener Faschingssitzung, auf der Bärt gesungen hat, wenn man das so nennen möchte … na ja, und zwei Tage später wurde er im gleichen Aufzug beim Umzug erschlagen.»
Ich habe mich wieder gefangen und schalte mich ein.
«Von Drossmanns Sohn wissen wir, dass das Opfer sehr häufig eine Videokamera bei sich hatte, die bis jetzt vermisst wird. In Drossmanns Haus haben wir nichts gefunden. Keine Kamera, keine Bänder. Es muss einen externen Raum geben, in dem das alles lagert. Auch von seinen Musikinstrumenten, seinen Keyboards fehlt jede Spur. Bisher weiß keiner, wo dieser
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