Toter geht's nicht
oder?»
«Nee», sagt Melina kleinlaut.
«Hör zu. Ich weiß, dass es deiner Mama wieder besser geht. Und ich weiß auch, dass sie bald wiederkommt.»
«O.k.», gibt sich meine Tochter zufrieden und legt auf. Dann schaut sie zu mir und sagt: «Beste Freundin verraten, nee, das geht gar nicht», und verschwindet in ihrem Zimmer.
Nun ist es still. Die Geschehnisse der vergangenen Stunden rattern mir durch den Kopf. Ich würde mich gerne freuen. Darüber, dass wir Herr Bärt verhaftet haben und dass ich einen großen Teil dazu beigetragen habe. Doch es klappt nicht. Nicht einmal ein Gefühl der Zufriedenheit möchte sich einstellen. Ich spüre vielmehr eine Schwere. Es ist nicht die Schwere des Selbstmitleids und des Memmens, die mir so gut bekannt ist. Es ist was anderes. Ich schleppe mich zum Flügel und setze mich auf die Klavierbank. Meine Hände spielen ganz leise Akkorde, die ich lange ausklingen lasse. Ich schließe die Augen und denke an Franziska. Wenn ich mich doch nur wenigstens mal wieder mit ihr streiten könnte. Wenn ich mich doch wenigstens mal wieder über sie ärgern dürfte. Oder sie sich über mich. Wenn wir uns wenigstens mal wieder doof finden könnten.
Wie sich ein Flügel nur so verstimmen kann, denke ich, als meine Harmonien immer mehr ins Mollige abzustürzen drohen. Er steht rum, tut nix und verstimmt einfach, wenn sich keiner um ihn kümmert. Früher kam einmal im Jahr so ein Mensch, der das in Ordnung brachte und der Werkzeuge hatte, um alles wieder in Stimmung zu bringen. Und zwar wohltemperiert. Ein sehr komplexes Unterfangen an einem sensiblen Instrument, das regelmäßiger Pflege bedarf. Stimmt der Flügel nicht, kann man noch so virtuos spielen, es wird trotzdem nicht gut klingen. Ich habe oft gemeinsam mit der damals kleinen Melina der Prozedur beigewohnt. Es war beeindruckend zu beobachten, wie dieser Mann hingebungsvoll minutenlang gleiche Intervalle anschlug, dabei Nuancen hörte, die niemand sonst wahrnahm, und mit seinem Stimmhammer unzählige Saiten meisterhaft zum 440-hertzigen Wohlklang brachte. Dafür brauchte er Zeit, Ruhe, Geduld, Geschick, Gespür, Wissen und ein brillantes Gehör.
Manchmal kam dieser Mann auch zwei- bis dreimal im Jahr, je nachdem, wie exzessiv Franziska übte oder wie stark das Klima sich änderte.
Irgendwann hat sich das Klima so stark verändert, dass er gar nicht mehr kam.
Ich blicke hinüber zum Bücherregal. Im unteren Fach stehen die Fotoalben. Ich gehe hin und ziehe mir wahllos einige heraus. Ich betrachte Franziska. Als skifahrende Studentin, als heiratende Frau, als werdende Mutter, als gewordene Mutter. Als schöne Frau. Mein Magen macht Stepptanz. Mein Hals kocht Klöße. Ich nehme mir das nächste Album heraus, eins mit Fotos aus Franziskas Jugend. Es stammt aus der Zeit, in der sie so alt war wie Melina heute. Ich sehe Bilder von einer Klassenfahrt nach Berlin, bei der die Mauer noch stand, Bilder von einem Urlaub mit Petra und deren Eltern … auf einer Berghütte in der Schweiz …
Hey, Sandra, komm mal wieder on
Ich warte. Um Mitternacht war sie doch sonst fast immer online. Warum nicht jetzt?
Ich warte weiter. Dann fällt mir ein, dass ich noch mit Berlusconi rausmuss. Ich öffne die Terrassentür und lasse ihn im verwilderten Garten seinen Geschäften nachgehen. Derweil rauche ich. Ich muss wieder aufhören, denke ich, und zünde mir eine zweite an. Nach der Hälfte mache ich sie aus und kehre zum Notebook zurück.
Nun ist Sandra online.
Hey, was gibt’s?
Du wirst es nicht glauben – der Fall ist geklärt. Wir haben Herr Bärt verhaftet.
Das ist ja der Hammer. Herzlichen Glückwunsch!
Danke …
Hat er gestanden?
Ja. Das heißt, so halb. Den einen Mord, den an dem Sohn Drossmann schon, den ersten, den an dem Vater, dagegen nicht. Aber ich denke, er hat beide Morde begangen.
Und wie habt ihr ihn drangekriegt?
Erzähl ich dir ein anderes Mal. Bin zu müde. Wie geht’s dir?
Gut, danke.
Das reicht mir nicht.
Wie? Das reicht dir nicht???
Ich möchte gerne mehr von dir wissen.
Geht das schon wieder los.
Genau. Das schon wieder …
Pause
Jetzt nicht.
Wo genau ist das, wo du lebst? Wo liegt deine Hütte?
Willst du mich besuchen, oder was?
Warum nicht?
Aha. Und dann?
Na, dann lernen wir uns mal richtig kennen …
Jetzt bekomme ich Angst …
Solltest du auch
Und was würde deine Frau dazu sagen?
An dieser Stelle denke ich lange darüber nach, was ich antworten soll. Dann schreibe ich:
Keine Ahnung. Ich würde
Weitere Kostenlose Bücher