Toter geht's nicht
Menschen erschlagen. Ob Notwehr oder nicht, ich habe es getan. Ich werde darüber reden müssen. Die Konsequenzen tragen. Doch das Schuldgefühl, meine Kinder alleingelassen zu haben, ist viel stärker.
Ich habe mich eigentlich immer schuldig gefühlt. Bei allem. Nie war ich gut genug, es hat nie gereicht. In meiner Wahrnehmung war ich für alles verantwortlich. Ich fühlte mich verantwortlich, wenn meine Schüler Fünfen schrieben, sich danebenbenahmen oder den Unterricht störten. Dann lag es an mir. Als es anfing, dass es mit Henning und mir bergab ging, suchte ich immer und immer wieder die Schuld bei mir. Nur bei mir. Ich meckerte zwar immer mehr an ihm herum, doch mit mir selbst ging ich viel härter ins Gericht. Ich beschimpfte mich selbst dafür, dass ich meinen Ansprüchen nirgends mehr gerecht wurde. Weder als Pianistin noch als Lehrerin, und schon gar nicht als Ehefrau und Mutter. Ich wollte immer stark sein. Nicht so wehleidig wie Henning. Ich wollte kämpfen und nie nachlassen.
Hier oben habe ich so viel nachgedacht. Ich habe aber trotzdem nicht herausfinden können, warum ich das aufgegeben habe, was ich wirklich konnte, was mir Halt gab, wo ich mich selber spürte, was mir so viel bedeutete: Klavier spielen. Warum habe ich mich selber so bestraft? Diese Frage bleibt offen. Scheiße, was bin ich nur für ein Psycho!
Ich brauche Hilfe, wenn ich zu Hause bin, werde ich nach ihr suchen und hoffe, sie dann auch annehmen zu können. Ich will aufhören zu glauben, alles alleine meistern zu können.
Der reale Henning ist so weit weg. Der Henning, der mich in den letzten Monaten und Jahren auf die Frustpalme brachte. Ich denke hier in der Einsamkeit immer an den Henning, in den ich mich verliebt habe. Der mich zum Lachen brachte, mit dem ich ganze Sonntage im Bett vertrödelte, mit dem ich blöde Lieder sang, den ich wahrscheinlich gesucht habe, als ich «Sandra» erfand. Und vielleicht auch gefunden habe. Sandra hat mir geholfen, näher bei ihnen zu sein. Bei Henning, bei Melina und bei Laurin. Ich glaube, dass Henning das irgendwann durchschaut hat, dass er wusste, wer Sandra ist. Er hat aber weitergemacht. Er hat geflirtet. Als Sandra habe ich angefangen, mich wieder in ihn zurückzuverlieben. So ein bisschen. Wie albern, wie schön. Nun hat er die Adresse. Ich wünsche, dass er herkommt und mich abholt. Doch ich habe auch so Angst davor.
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24. KAPITEL
E ngelberg heißt der Ort, den wir ansteuern, inmitten dieser Schweiz, die es wie kein anderer Staat in Europa so bravourös versteht, sich aus allem herauszuhalten. Die Schweiz, die auf unvergleichlich charmante Weise so tut, als wäre nie etwas gewesen mit Nazivermögen oder zugemachten Grenzen, deren Straßen und Berge unablässig bebaut und untertunnelt werden, deren Menschen so freundlich, aufmerksam, höflich und reich sind, dass wir Deutschen damit kaum umgehen können, und deren Städte, Seen und Berge so unverschämt unversehrt schön sind. Den Ort Engelberg kenne ich von Skisprung-Fernsehübertragungen. Ich gucke sehr gerne Skispringen, was vor allem an Martin Schmitt liegt. Die Hoffnung, dass er es doch noch einmal schaffen wird, in die Weltspitze zurückzukehren, verlässt mich nie. Das erzähle ich meinen Kindern, die dies gelassen bis desinteressiert zur Kenntnis nehmen. Meiner vierzehnjährigen Tochter sind auch Bergpanoramen nicht so wirklich wichtig, stelle ich fest, als ich zum dritten Mal mit meinem «Guck doch mal, wie schön, der Schnee da oben auf den Bergen» auf eine Mauer des Gähnens stoße.
Chantal, mein wackeres Navigationsluder, ist eine wahre Kosmopolitin. Sie kennt sich auch hier aus und lässt uns von der Autobahn rechtzeitig abfahren, in Richtung Engelberger Tal.
Dann wird gekotzt. Bedingt durch eine kurvenreiche, serpentinenartige steile Strecke, kommt es nicht durch mich, auch nicht durch Melina oder Laurin, sondern durch Berlusconi zehn Minuten vor Erreichen unseres Ziels zum oralen Auswurf. Ich stelle unser Auto in einer Ausbuchtung ab und tu das, was ein Mann tun muss, wenn sein Hund gekotzt hat, seine Tochter permanent «Iiiihhh» schreit und sein Sohn jammert, dass er nun hinten in diesem Gestank nicht mehr sitzen möchte.
Melina versprüht nach dem Wegwischen der unschönen Bröckel ihr Deo im Auto, sodass auch mir nun schlecht wird. Laurin hat auf dem Schoß seiner Schwester vorne Platz genommen. Diese letzten Minuten im Auto werden wir auch noch hinter uns bringen.
Dann erreichen wir
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