Toter geht's nicht
etwas wünsche ich mir nun für Franziska und mich. Ein simples Happy End. Einfach so.
«Hallo, Schatz, hier bin ich, ich liebe dich, und du liebst mich auch, und alles ist nun gut und besser und anders als früher und basta!»
Es ist schon sehr unverschämt, wie sie mich mit «Sandra» an der Nase herumgeführt hat. Sie hat mich ausgehört und schlichtweg verarscht.
Melina und Laurin schlafen. Zwei Stunden sind wir inzwischen unterwegs. Weitere vier werden folgen. Dann werden wir noch zu Fuß einen kleinen Berg hochsteigen müssen, dann sind wir bei ihr.
Wenn ich mehr bei Sinnen gewesen wäre, wäre ich nicht einfach weggerannt. Ich wäre am Tatort geblieben, hätte den Notruf gerufen und erzählt, was passiert ist. Man hätte es durchaus als Notwehr auslegen können. Er hat mich eindeutig belästigt und meine kleine Tochter auch. Doch ich war alles andere als bei Sinnen. Der Rest meiner Nerven brach einfach zusammen.
Ich hatte Angst, aber noch viel mehr hatte ich Wut. Ich hob die Eisenstange. Nur ein Mal habe ich zugeschlagen. Er stürzte und rührte sich nicht mehr. Mein Kopf schien zu zerplatzen. In meinem linken Ohr fuhr ein Lastwagen. Mir wurde schwindelig. Mir blieb die Luft weg. Mein Herz raste. Ich packte die Kamera und lief einfach weg. Ich lief und lief, bis ich beim Auto war. Dann fuhr ich nach Hause. Irgendwie. Ich erinnere mich noch, dass ich an Laurin dachte. Dass er versorgt war. Dass er zu Calvin mitging und dort sogar übernachtete. Das beruhigte mich. Als ich ins Haus kam und Henning da so auf dem Sofa liegen sah, mit seinem Fußballspiel und seinen stumpfen Blicken, als ich diese kilometergroße Distanz zwischen ihm und mir spürte, da wusste ich, dass ich noch weiter wegmusste.
Melina ist inzwischen aufgewacht und fragt mich, wie ich die Adresse der Berghütte herausbekommen hätte. Ich behaupte, dass ich mit Petra telefoniert und sie mir alles gesagt hätte. Von meinem virtuellen Geschnatter mit «Sandra» möchte ich natürlich nichts erzählen. Seit über einer Stunde muss ich einen kommerziellen Radiosender für junge Menschen ertragen, auf dem zu Dauerdumpfbeat von irgendwelchen Communities, Downloadcharts und Trendscouts gefaselt wird. Zudem werde ich von einer impertinenten Moderatorin, die vermutlich mindestens so alt ist wie ich, aber angestrengt jünger daherkommen will, selbst bei den Verkehrsinformationen geduzt. Ich sehne mich nach einem Streichquartett, gönne Melina aber noch eine Weile ihren Lieblingsterrorsender. Laurin schläft noch immer tief. Er sitzt halb liegend auf der Rückbank, mit dem Kopf auf Berlusconis Bauch.
Melina erzählt mir von «behinderten Youtubern» und ihren «dummen Channels» und wie scheiße das alles wäre und daneben und so, aber trotzdem total witzig und wen und was und warum sie wen wo «addet» oder auch nicht.
Ich verstehe nur die Hälfte von dem, was sie sagt. Doch das ist mir egal. Ich höre ihr trotzdem gerne zu. Mir fällt auf, dass es mir gerade ungemein gefällt, mit meinen Kindern unterwegs zu sein. Wir machen in gewisser Weise das, was ich früher meist gehasst habe: einen Familienausflug.
«Lass uns doch mal rausfahren», hatte Franziska immer gesagt.
Rausfahren … was genau sollte das sein?
«Wo können wir denn hier noch rausfahren?», habe ich oft entgegnet.
«Rausiger, als wir hier sind, kann man doch gar nicht mehr sein», habe ich gesagt. «Rausfahren, das können Menschen, die drinnen sind, die in Berlin-Friedrichshain wohnen oder so, aber doch nicht wir!»
Doch natürlich ging es Franziska um etwas anderes. Es ging ihr darum, zusammen zu sein, als Familie.
Ich erinnere mich an diverse Raus-fahr-Sommer-Aktionen bei mindestens 68 Grad Außentemperatur mit defekter Klimaanlage. Zwei Stunden fuhren wir dann über extrem ländliche Landstraßen und stritten darüber, wo wir denn nun anhalten sollten, um an irgendwelchen waldigen Waldschneisen auf Ameisenhaufen zu picknicken. Ich wünschte mich dann immer irgendwo anders hin. Und jetzt, in diesem Moment, während meine pubertierende Tochter weiter auf mich einredet und mein Vorschuljunge sich von unserem Köter vollsabbern lässt, wünsche ich mich wieder genau dorthin.
Dann spüre ich wieder ein leichtes Stechen in der Brust. Ich nehme es hin und beschließe, mir bei der nächsten Raststätte eine Pause zu gönnen. Memme, du bist auch nicht mehr das, was du einmal warst, denke ich, während Melina noch immer redet und Lady Gaga gackert.
Schuld. Ich habe einen
Weitere Kostenlose Bücher