Totgeburt
anderen Umständen hätte sie ihn wahrscheinlich respektiert. Die Realität sah jedoch anders aus, sie hasste ihn und er hasste sie. Zudem hatte sich seine Lage verbessert. Er liebte die Arbeit im Labor, da war es im Grunde genommen egal, wo es stand und woran er arbeitete. An seiner Abneigung ihr gegenüber hatte sich indes nichts geändert.
Das Geschehene konnte nicht rückgängig gemacht werden, sie musste nach vorne schauen. Konnte es wirklich sein, dass der Wind sich einmal mehr drehte? Der Spieler nahm den Doktor jedenfalls unter die Lupe, wollte endlich Ergebnisse sehen. Es war köstlich mitanzusehen, wie der Alte unruhig wurde. Aber wer sagte, dass es nicht zu einer Katastrophe wie damals in den Achtzigern kommen würde?
Doch, es gab da einen Unterschied. Damals hatte sie nicht gewusst, dass der Spieler in Aktion getreten war. Heute dagegen wusste sie es. Sie saßen wieder am Spieltisch und es wurde eifrig gezockt. Deswegen musste sie auch dafür sorgen, dass sie gute Karten in die Hand bekam.
Alles hatte mit dem Stricher zu tun, der hier und jetzt neben ihr lag. Marie sah zu ihm herüber. Er hatte sich in die Embryonalstellung zusammengerollt und spastische Zuckungen durchliefen seinen Körper. Das Gesicht spiegelte den Schrecken wieder, den er in den letzten Tagen, nein, sein gesamtes Leben schon, hatte erdulden müssen. Seine Hände lagen aufeinander, wie zum Gebet gefaltet. Sie ragten in ihre Richtung, nur wenige Zentimeter trennten sie voneinander. Sogar im Schlaf suchte er ihre Nähe. So ein stinkendes Tier!
Sie konnte beim besten Willen nichts Besonderes an ihm ausmachen. Das einzige, was er bisher geleistet hatte, war es den Cocktail überlebt zu haben und das war lediglich der erste Test einer ganzen Versuchsreihe gewesen. Er könnte genauso gut beim nächsten Mal sterben.
Der Doktor hatte vor seiner Rückkehr in den Westen Kampfstoffe entwickelt. Könnte es sich bei diesem Projekt auch um eine Waffe handeln? Nur was sollte man mit einem resistenten Menschen anfangen? Normalerweise müsste man ihn sofort beseitigen, stattdessen würden sie ihn zu einen von ihnen machen. Die Sache machte irgendwie keinen Sinn, denn einmal dem Ritual unterzogen, wäre der Stricher sowieso resistent … sie musste an mehr Informationen gelangen, die Teile passten nicht zusammen.
Einfach verblüffend, sollte sich womöglich die Zeit, die sie an der Seite des Doktors verbracht hatte, bezahlt machen? Marie musste sich zusammenreißen. Wenn der Spieler den Doktor in Augenschein nahm, sah er sie womöglich auch. Wenn sie also ihre Arbeit gut machte, dann könnte sie in der Hierarchie aufsteigen und endlich ihr eigenes Projekt anvertraut bekommen. Das Wissen um die Ereignisse konnte ihr Ticket in die Freiheit sein.
Das Piepsen des Computers riss Marie aus ihren Gedanken. Ein Chatfenster öffnete sich. Anscheinend meinte der Doktor, sie lange genug warten gelassen zu haben.
„Mal sehen, was der Alte zu sagen hat.“
***
Ivanovich_II> Bist du online, Marie?
bl00dy_M> hallo, binn da
Deswegen leuchtet doch der grüne Punkt, du Arsch.
Ivanovich_II> In Ordnung. Wir werden heute das weitere Vorgehen klären.
bl00dy_M> ok
Ivanovich_II> Morgen bekommst du ein Päckchen geliefert. Es beinhaltet eine Substanz. Gib sie ihm. Oral, wie beim letzten Mal. Haargenau derselbe Ablauf, wie beim letzten Mal.
Wie langsam kann man denn Schreiben, du Penner? Haarrrgenau? Du Arschloch!
bl00dy_M> ok. was wenn er plotzlich misstrauisch wird? wenn er nicht ganz dumm ist, muss ihm doch auffallen, dass ich dran schuld bin.
Ivanovich_II> Hör einfach zu! Am Anfang wird er damit beschäftigt sein zu überleben. Er wird zu schwach sein, um irgendwelche Überlegungen anzustellen. Ist er denn nicht voll auf dich angewiesen?
Fuck you, Fuck you, Fuck you!
bl00dy_M> und wenn es ihm besser geht?
Ivanovich_II> Dann kommst du mit ihm zur Praxis. Geh sicher, dass er dir vertraut, fertig. Hör auf Fragen zu stellen und hör mir zu.
Fuck you, Fuck you. Ein Chat ist nun einmal ein Dialog, du alte Sau.
bl00dy_M> bin am ball und verstehe. substanz geben, nicht töten, sicher gehen, dass er nicht wegläuft …
Ivanovich_II> Und dann weitere Tests in der Praxis.
bl00dy_M> das ist gut. er hat kein geld, ich bezahle angeblich alles und er steht komplett in meiner schuld. ach, der mag mich eh.
Ivanovich_II> Gut. Wenn wir die Testreihen abgeschlossen haben, beginnen wir damit, ihn auf das Ritual vorzubereiten.
bl00dy_M> ok. was wenn er mal einer von
Weitere Kostenlose Bücher