Totgeglaubt
Nachbarschaft schien noch zu schlafen.
Sie setzte sich auf den Plastikstuhl, den sie auf die Veranda gestellt hatte, und blickte hinüber zu Jed Fowlers Haus. Sie
musste
herausfinden, wer auf Clay geschossen hatte. Außerdem musste sie beweisen, dass Clay den Reverend nicht ermordet und ihr Vater aus Rücksicht auf Irene nicht halbherzig ermittelt hatte.
Die Nachbarkatze sprang vom Briefkasten auf den Boden und erinnerte Allie daran, dass sie die Post von gestern noch gar nicht geholt hatte. Wahrscheinlich ohnehin nur ein Haufen Rechnungen. Und vielleicht eine Steuerrückzahlung, die eigentlich fällig war, genau wie bei Madeline. Eine solche Finanzspritze käme ihr gerade jetzt sehr gelegen.
Ein dickes Päckchen klemmte im Briefkasten. Als Allie es endlich mühsam herausgezogen hatte, stellte sie fest, dass es gar nicht mit der Post gekommen war. Es trug weder Absender noch Briefmarke, lediglich ihr Name stand in dicken Buchstaben auf der Vorderseite.
Wer hatte es hier abgegeben? Und wann?
Sie sah noch einmal im Briefkasten nach und fand ein paar Gutscheine und Rechnungen. Sonst nichts.
Instinktiv blickte sie sich um. Aber wer immer das Päckchen gebracht hatte, war längst verschwunden.
Und als sie es öffnete, verstand sie auch, warum.
Der Mann, den der Wärter den schmalen, grauen Gang vor Clays Zelle entlangführte, war noch größer als Clay, schätzungsweise um die zwei Meter. Er trug Handschellen und war auf dem Weg zur freien Nachbarzelle. Auf seinen Lippen lag ein Lächeln, als würde ihm seine Inhaftierung nicht das Geringste ausmachen.
Gegen die Gitterstäbe seiner Zelle gelehnt, sah Clay ihn vorbeigehen und fragte sich, worüber sich dieser Goliath von einem Kerl wohl so freute. Sicher nicht über eine besonders herzliche Begrüßung durch die Haftanstalt. Der Wärter behandelte ihn noch ruppiger als Clay und antwortete nur das Nötigste auf seine Fragen.
“Wann gibt es Abendessen?”, fragte der Mann. “Ich freu mich nämlich schon auf die reichhaltige Kost hier! Herrje, was für ein Fraß! Den müssten Sie sich mal selbst reinstopfen.”
“Der Hunger wird’s schon reintreiben”, antwortete der Wärter. Abscheu und Verachtung waren ihm anzusehen, doch seine Unhöflichkeit schien den Neuankömmling nicht zu stören. Der Mann lachte, als der Wärter seine Zellentür abschloss und ging. Dann wandte er sich Clay zu.
“Wie ist das Essen?”, fragte er.
“Furchtbar”, gab Clay zu. “Haben Sie erwartet, dass es gut ist?”
Der Mann zuckte die Achseln. “Manchmal ist es gar nicht so schlecht. Immer noch besser, als in Mülltonnen nach Essen zu wühlen.”
Clay musterte seinen Zellennachbarn. “Machen Sie das normalerweise?”
“Nein, um Himmels willen. Das ist nur ein kleiner Trick, den ich mir angewöhnt habe.”
Clay schob sich näher an ihn heran. “Trick?”
“Es geht immer noch schlimmer. Wenn man an das denkt, was noch mieser ist, dann erscheint einem das, was man hat, gar nicht mehr so übel.”
“Sie sollten Positiv-Denken-Seminare geben”, meinte Clay und ließ sich auf seine Pritsche fallen. “Allerdings glaube ich nicht, dass Ihre Methode Sie bei der Polizei auch nur einen Deut voranbringt.”
Der Mann wedelte unbekümmert mit der Hand. “Was kümmern mich die Arschlöcher? Egal, ich will ja gar keine Wohlfühlseminare geben. Mit Bankraub verdiene ich viel besser, und da muss ich am Eingang auch keine Tickets verkaufen.”
Clay versuchte, es sich gemütlich zu machen, indem er den Kopf auf seine Hände stützte. “Sitzen Sie deshalb ein? Wegen Bankraubs?”
“Bewaffneter Überfall. Und wegen einem unbeabsichtigt losgegangenen Schuss, was in der Amtssprache Überfall mit tödlicher Waffe heißt.”
“Unbeabsichtigt losgegangen”, wiederholte Clay.
“Ja.”
Clay hatte keine Lust mehr, auf das quadratische Muster der Matratze über ihm zu starren, und taxierte seinen Zellennachbarn erneut. “Ist es nicht schwer, bei Ihrer Größe Bankräuber zu sein? Sie können doch nie unauffällig in einer Menschenmenge untertauchen.”
“Oh, verdammt, vielleicht hat es
deshalb
nie geklappt”, sagte der andere und schlug sich mit der Hand vor die Stirn.
Clay musste gegen seinen Willen lachen. “Na, wenn Sie wirklich Karriere machen wollen, dann wäre da vielleicht noch Basketball.”
“Tja, das ist für mich leider keine Option, Amigo. Mit einem Ball kann ich meinen Lebensunterhalt nicht verdienen. Ist die Schuld meiner Mutter.”
“Ihrer Mutter?”
“Na ja,
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