Totgeglaubt
zu sehen.
Falls ihr Vater etwas gehört hatte, war er aber offenbar zu verängstigt, um seine Anwesenheit zu verraten. Und auch von Joe war nichts zu sehen.
“Wenigstens etwas”, murmelte sie. Aber es nützte ihr nichts, wenn sie nicht hineinkam. Die Tür hielt all ihren Bemühungen stand.
Allie fluchte leise und setzte die Brechstange erneut an. Mit einem ungeheuren Krachen gab das Holz schließlich nach.
Das war’s dann wohl mit ihrem unauffälligen Manöver. Und mit Clays Privatsphäre. Im Laufe der Nacht würden wahrscheinlich nicht weniger als drei verschiedene Personengrüppchen durch sein Haus vagabundieren. Man brauchte nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, was er davon halten würde.
Sie stopfte die Brechstange zurück in ihre Tasche, schlüpfte ins Haus und stellte einen Küchenstuhl vor die Tür, um sie geschlossen zu halten. Sie wollte nicht, dass Joe gleich sah, dass sie aufgebrochen war. Dann knipste sie ihre Taschenlampe an, darauf bedacht, den Lichtstrahl nur auf den Boden zu richten, und eilte durch die Küche in Richtung Treppe. Sie war versucht, ihren Vater mit einem lauten Ruf zu warnen, hielt sich dann aber doch zurück, aus Angst, dass auch andere sie hören könnten.
Allie war noch nie so weit in Clays Haus vorgedrungen. Es quälte sie, dass er nicht hier war, aber sie hatte jetzt keine Zeit, um über Sehnsüchte und Verlustängste nachzudenken, das würde sie nur noch mehr belasten. Also lief sie so leise sie konnte die Treppe hinauf.
Von den Türen, die vom Flur im ersten Stock abgingen, waren alle bis auf zwei geöffnet.
Hinter einer dieser beiden Türen würde sie ihren Vater antreffen – mit einer Frau, die nicht ihre Mutter war.
Shit
…
Sie atmete noch einmal tief durch und öffnete die erste Tür. Es war Clays Schlafzimmer, und es war leer. Der maskuline Duft, der immer noch im Raum hing, weckte in ihr die Erinnerung an ihre gemeinsame Nacht, an seinen nackten Körper, der sie umschlungen hielt. Wie sehr sie sich nach ihm sehnte! Sogar jetzt. Aber Clay war im Gefängnis, vielleicht sogar für immer. Und unterdessen hatte ihr Vater eine Affäre. Und Joe bereitete sich darauf vor, seine Trümpfe auszuspielen.
Die Welt war verrückt geworden. Alles, aber auch alles war verdreht und verkehrt. Doch Allie wollte sich von ihrer Panik und Verzweiflung noch nicht unterkriegen lassen. Jetzt musste sie erst einmal ihren Vater und Irene finden. Um den Rest könnte sie sich später kümmern.
Als sie die Klinke der zweiten verschlossenen Tür hinunterdrückte, stellte sie fest, dass sie sich nicht öffnen ließ. Hier mussten sie sein.
Sie klopfte leise. Keine Antwort.
“Dad! Ich bin’s, Allie. Bitte mach auf!”
Nichts.
“Dad, hör zu. Joe ist auf dem Weg zur Farm”, flüsterte sie, dicht an die Tür gepresst. “Er hat vor, nach der Leiche seines Onkels zu suchen. Wenn er eure Autos findet, wird er seine Suche erheblich ausweiten. Ihr müsst mit mir nach unten kommen und so tun, als hätten wir hier eine Besprechung abgehalten.”
Sie hörte eine Bewegung hinter der Tür. Hatten sie die Botschaft verstanden? Fuhren sie in hektischer Aufruhr in ihre Kleider? Sie war sich nicht sicher. “Dad? Hast du mich verstanden? Ich habe die Scheune, wo sie wahrscheinlich mit ihrer Suche beginnen werden, verriegelt. Aber lange wird sie das nicht aufhalten.” Sie zögerte. “Hallo? Jetzt antworte mir doch. Joe ist …”
“… nicht so blöd, wie Sie denken”, sagte eine Stimme hinter ihr.
Allie schlug das Herz bis zum Hals, als sie sich umdrehte und den Mann sah, von dem sie nicht vermutete hätte, dass er aus einem dritten Zimmer des oberen Stockwerks herausspaziert käme. Joe knipste das Licht an.
“Woher wussten Sie, dass ich heute Nacht herkommen würde?”, fragte er.
Allie versuchte, so überzeugend wie möglich zu klingen. “Clay sitzt im Gefängnis. Da liegt die Vermutung doch nahe, dass Sie davon profitieren wollen.”
Joe schien nicht restlos überzeugt, hatte aber zu sehr Oberwasser, um weiter nachzuhaken. “Es ist gut, dass ich hier bin”, stellte er fest. “Jetzt verstehe ich endlich, warum sich Ihr Vater immer gesträubt hat, den Mörder meines Onkels zu suchen! Er war zu sehr mit Irenes dicken Titten beschäftigt!” Joe schüttelte den Kopf. “Arme Evelyn. Wie sieht das denn aus? Ein braver Kirchgänger wie Dale McCormick! Und dazu noch der Polizeichef! Nein, das sieht gar nicht gut aus.”
Allie starrte ihn an. “Das reicht! Sie haben überhaupt kein
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