Totgeglaubt
Highschool verlassen. Sie war inzwischen Modedesignerin und lebte in New York. Grace hatte ein paar Jahre in Jackson gelebt, aber sie war zurückgekehrt und würde jetzt, wo sie mit Kennedy Archer verheiratet war, wohl für immer hierbleiben. Kennedy hatte von seinem Vater die Stillwater Kreditbank geerbt, die sein Großvater vor einem Vierteljahrhundert gegründet hatte. Er würde seine zwei Söhne nicht entwurzeln, das Bankgeschäft nicht aufgeben und seine Eltern nicht allein lassen wollen. Sein Vater hatte gerade eine schwere Krebserkrankung überstanden. Aber Clay und Irene hatten niemals auch nur einen Versuch unternommen, anderswo ihr Glück zu machen. Als Clay das College beendet hatte, war seine Mutter ins Ortszentrum gezogen und hatte ihm die Farm übergeben. Das war’s.
“Wissen Sie etwas über seine Biographie?”, fragte Allie und setzte sich bequemer hin, sodass sie Hendricks anschauen konnte, ohne sich den Hals zu verbiegen.
“Steht das nicht alles in den Akten?”, fragte er zurück.
Einiges ja. Aber da die Polizei von Stillwater vor neunzehn Jahren nicht besonders viel Erfahrung mit vermissten Personen gehabt hatte, war der Fall nicht so gründlich recherchiert und dokumentiert worden, wie er es hätte sein sollen. Genau deshalb interessierte sich Allie jetzt für die vielen Erklärungsversuche und die schnellen Urteile, die damals von Mund zu Mund gegangen waren, die ihre Kollegen aber für unwichtig gehalten hatten. Wenn Hendricks ihr schon seine Gegenwart aufdrängte, dann wollte sie wenigstens von der Situation profitieren und sein Insiderwissen aus ihm herausholen. Er liebte Klatsch und Tratsch, und entsprechend dankbar griff er alles auf, was er in der Stadt so aufschnappte. “Es gibt nur wenige harte Fakten. Geburtsort und so weiter.”
“Er ist in Booneville geboren, oder?”
Sie nickte.
“Er kam in die Klasse meiner kleinen Schwester, als er hierher zog. Sie sagt, er hätte ganz gute Noten gehabt. Bis er älter wurde.”
“Verschlechterten sich seine Leistungen schon vor oder erst nach Reverend Barkers Verschwinden?”
“Mary Lee hat mir erzählt, dass das ungefähr zusammenfiel, aber ich habe seine Zeugnisse nie überprüft.”
“Was ist denn mit seinem richtigen Vater?”, bohrte sie weiter.
“Der ist abgehauen, jedenfalls hab ich das gehört.”
Genau das, und nicht mehr, stand auch in Clays Akte. “Hat man je versucht, Mr. Montgomery ausfindig zu machen?”
“Nicht, dass ich wüsste. Warum?”
Sie zuckte die Achseln, aber zu ihrem Erstaunen nahm Hendricks den Faden auf.
“Sie glauben doch nicht, dass Clay ihn auch umgebracht hat?”
Sie rollte mit den Augen. “Ich bin keine Hellseherin, aber ich nehme an, Clay wird dafür zu jung gewesen sein.”
Er überhörte den Sarkasmus in ihrer Stimme. “Also tippen Sie auf Irene? Natürlich!” Er klatschte in die Hände, als hätte er soeben den Fall gelöst. “
Jetzt
verstehe ich, wieso Sie in Chicago so erfolgreich waren. Ich bezweifle, dass irgendjemand von uns hier je auf diese Idee gekommen wäre.”
Was wahrscheinlich daran lag, dass Allie die einzige Person in Stillwater war, die abgebrüht und ernüchtert genug war, um so etwas überhaupt in Betracht zu ziehen. Die Polizisten unter dem Kommando ihres Vaters hatten nicht ansatzweise mit so abscheulichen, brutalen Verbrechern zu tun gehabt wie sie in Chicago. “Es könnte sich lohnen, das zu überprüfen”, sagte sie langsam.
“Klar, das macht Sinn.” Hendricks’ Kopf wackelte hin und her. “Wenn Clays Vater noch lebt, dann hätte er doch sicher irgendwann mal in Stillwater vorbeigeschaut. Die Montgomerys leben seit … wie vielen? … dreiundzwanzig Jahren hier. Aber niemand hat je auch nur eine Spur von dem Vater gesehen. Schon merkwürdig.”
Wenn Clays Vater tot war und sich die Umstände seines Todes womöglich als seltsam herausstellten, dann musste Allie diesen Zusammenhang prüfen. Aber Hendricks war viel aufgeregter, als es diese dürftige Möglichkeit rechtfertigte. “Nicht zwangsläufig. Es kann viele Gründe haben, dass er hier nie aufgetaucht ist. Also, lassen Sie sich nicht gleich so mitreißen von dieser Idee”, bremste sie ihn. “Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass Mr. Montgomery gesund und munter in einem anderen Bundesstaat lebt.”
“Das stimmt”, räumte er ein, aber sie merkte, dass er ihr gar nicht mehr zuhörte. Er war gedanklich bereits vorgeprescht. “Wenn wir Irene für den einen Mord drankriegen könnten, dann
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