Totgeglaubt
falschlag, die seinem Vater jeden Spaß versagte. Sie war der Grund dafür, dass er nicht mehr so viel Zeit zu Hause verbringen mochte. Doch dann verließ Lucas sie plötzlich alle miteinander, und Clay musste praktisch über Nacht erwachsen werden. Als er dann für den ortsansässigen Futtermittelladen arbeitete, für die Hälfte des Stundenlohns, den ein Erwachsener bekommen hätte, realisierte er, welcher Elternteil ihn tatsächlich liebte.
Hin und wieder hatte er seiner Mutter gegenüber immer noch ein schlechtes Gewissen, dass er ihr während jener Jahre die Schuld am Auseinanderbrechen der Familie gegeben hatte. Aber als Kind war es ihm schwergefallen, den Elternteil zu beschuldigen, der immer lächelte und beteuerte: “Ich amüsiere mich nur, Irene, reg dich doch nicht so auf.”
“Kein Grund zur Sorge”, beruhigte Clay seine Mutter. “Ich möchte nichts mit ihm zu tun haben.”
“Es war alles seine Schuld, weißt du. Wir könnten immer noch in Booneville leben, wenn er nicht alles zerstört hätte.”
“Ich weiß”, beschwichtigte Clay sie. Als sein Vater verschwunden war, hatte er Irene so mittellos hinterlassen, dass man ihr die Kinder fast abgenommen hätte. Ohne Ausbildung verdiente sie fast nichts, jedenfalls nicht genug, um sie durchzubringen. Clay erinnerte sich an den Sommer, in dem sie nichts außer Haferbrei zu essen hatten. Deshalb hatte Irene schon aus lauter Verzweiflung zugestimmt, als Reverend Barker um ihre Hand angehalten hatte. Das wussten sie alle. Clay vermutete, dass sogar Barker das geahnt hatte. Wie sonst hätte er sich eine so viel jüngere, attraktivere Frau angeln können?
Trotzdem hatte Irene ihre Ehe mit Barker mit dem Vorsatz begonnen, eine gute Ehefrau zu sein und das Beste aus ihrer, wie sie es sah, zweiten Chance zu machen. Clay erinnerte sich daran, dass sie Reverend Barkers Tochter Madeline exakt genauso behandelt hatte wie ihre eigenen Töchter Grace und Molly. Er erinnerte sich daran, wie sie ihn beiseitegenommen und ihm erklärt hatte, dass der Reverend vielleicht nicht unbedingt ein attraktives Mannsbild war, dass er dafür aber die Prioritäten richtig setzte. Er war ein Mann Gottes, und sie würden endlich eine glückliche Familie sein.
Wie konnte sie ahnen, dass das Leben für sie von da an nur noch schlimmer werden sollte …
“Bitte sprich mit Allie und überrede sie, damit aufzuhören”, bat Irene.
Clay atmete hörbar aus. “Warum? Lass sie doch, kümmere dich nicht darum. Wenn du jetzt reagierst, dann glaubt sie, sie hätte ins Schwarze getroffen, und macht erst recht weiter.”
“Aber sie hat ins Schwarze getroffen! Du musst ihr erklären, wie es für uns war, nachdem Lucas uns verlassen hat. Bitte sie, diese Sache nicht wieder hochzukochen.”
“Mom, was du sagst, macht keinen Sinn. Wenn Dad bislang nicht hier aufgetaucht ist, warum sollte er das jetzt auf einmal tun? Und selbst wenn, würde es für mich nichts ändern, das habe ich eben schon gesagt. Und für Molly und Grace gilt sicher das Gleiche. Du hast nichts zu verlieren.”
Sie presste ihre Hände zusammen. “Das stimmt nicht”, widersprach sie mit versunkenem Blick.
“Was meinst du damit?”, fragte Clay mit schmalen Augen.
“Er hat mich einmal angerufen”, gab sie zu.
“Wann?”
“Kurz nach Lees Tod.”
“Wie hat er gewusst, wo er dich erreicht?”
“Jeder in Booneville, bis hin zu seinem Cousin, wusste, dass ich einen Reverend geheiratet hatte und nach Stillwater gezogen war. Der Rest war sicher nicht schwer herauszufinden.”
Clay fuhr sich mit der Hand durchs Haar. “Okay, er hat dich angerufen. Was ist daran so aufregend?”
“Ich hatte gerade einen absoluten Tiefpunkt. Ich … ich war kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Grace ging es … du weißt, wie es Grace ging, nach all dem, was dieses Schwein ihr angetan hat. Sie hatte sich komplett von uns beiden abgekapselt. Und Molly war noch ein Kind, natürlich war sie zunächst sehr durcheinander gewesen, aber sie hat schnell vergessen. Du warst alles, was ich hatte. Aber du warst erst sechzehn.”
Ein Stoß Adrenalin schoss Clay durch die Adern. “Sag nicht, dass du …”, stieß er hervor.
“Clay, ich brauchte ihn. Ich … ich schäme mich, es zuzugeben, aber ich war so verzweifelt, dass ich ihn gebeten habe zurückzukommen.”
Seine Brust krampfte sich zusammen. “Wie viel hast du ihm erzählt?”
“Alles”, bekannte sie. “Ich musste einfach mit jemandem reden, den Schmerz rauslassen. Mein Kopf
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