Totgeglaubt
mir etwa unterstellen, dass ich lüge?”, konterte er.
Zum ersten Mal fragte sich Allie, ob nicht Lucas etwas mit Barkers Verschwinden zu tun haben könnte. War es möglich, dass er heimgekehrt war, einen neuen Mann an seinem Platz vorgefunden, mit ihm gekämpft und ihn dabei getötet hatte? Das würde zumindest erklären, warum Lucas Montgomery sich so lange rar gemacht hatte.
Dieser Gedanke überkam Allie fast mit einer gewissen Erleichterung. Sie zog es bei Weitem vor, den Täter in Clays Vater zu sehen, statt in Clay. “Ich mache nur meine Arbeit”, entgegnete sie. “Können Sie mir sagen, wo Sie in der Nacht waren, in der der Reverend verschwunden ist?”
“Ja. Ich habe ein hieb- und stichfestes Alibi. Also versuchen Sie nicht, mir den Mord anzuhängen.”
Allies Hand klammerte sich um den Hörer. “Ich habe überhaupt nicht gesagt, dass er tot ist.”
Keine Antwort.
“Mr. Montgomery?”
“Nach so langer Zeit muss man ja wohl davon ausgehen, meinen Sie nicht?”, sagte er. “Egal. Ich bin seit zwanzig Jahren in Alaska, und Sie werden nicht beweisen können, dass ich es je verlassen habe. Keine Flugtickets. Keine Zugtickets. Keine Tankquittungen.”
“Sie sind wohl ein Fan von ‘CSI’?”
“Ab und zu sehe ich mir eine Folge an.”
“Also sind Sie nie zurückgekehrt, um Ihre Kinder zu sehen?”
Erneutes Schweigen.
“Verstehen Sie mich? Soll ich lauter sprechen?”, rief Allie.
“Ich höre Sie.”
“Und?”
“Ich habe sie nicht besucht, okay?”
“Das allein ist schon ein Verbrechen, wenn Sie meine Meinung hören wollen.” Sie wusste, dass sie kein Recht hatte, über ihn zu urteilen. Aber ihre eigene Erfahrung mit Sam und seiner Ablehnung von Whitney und dazu noch die Verbitterung, die sie letzte Nacht bei Clay gespürt hatte, ließen sie übermäßig heftig reagieren.
“Zum Teufel mit Ihnen!”
Allie legte den Hörer zurück auf die Gabel. Sie hatte das Telefonat nicht so professionell geführt, wie sie es sonst tat. Aber immerhin hatte sie ihn bei einer Lüge ertappt. Das wertete sie positiv. Jetzt musste sie nur noch herausfinden, warum er gelogen hatte.
Whitney blickte zu ihr auf. “War das Daddy, Mommy?”
“Nein”, sagte sie. “Aber es war jemand, der ihm sehr ähnelt.”
8. KAPITEL
A uf den Rand der Kanzel gestützt hielt Reverend Portenski seine wöchentliche Predigt und erfreute sich gerade an deren Kernaussage, als er Clay Montgomery auf einen Platz im hinteren Kirchenteil schlüpfen sah. Obwohl Clay auf leisen Sohlen hereingekommen war und sich mehrere Reihen hinter der letzten belegten Bank niederließ, ging ein aufgeregtes Raunen durch den Raum, als man ihn bemerkte. Wie immer erduldete Clay das Getuschel mit eben der Würde, die man ihm gemeinhin absprach. Unbeirrt starrte er geradeaus und ignorierte die Köpfe, die sich nach ihm umdrehten. Aber wohl fühlte er sich deshalb noch lange nicht. Wer hätte das in dieser Situation schon getan?
Nach einem leichten Nicken in seine Richtung, mit dem der wohlmeinende Portenski Clay bei jedem seiner Kirchenbesuche begrüßte, suchte der Reverend den weniger einschüchternden Blick eines anderen Gemeindemitgliedes. Clay wirkte immer ein wenig bedrohlich. Vermutlich hatte er Dinge gesehen oder getan, an die Portenski nicht einmal denken wollte. Die Fotos aus der dunklen Mulde sagten ihm genug. Aber wenn Clay tatsächlich so viel Schuld auf sich geladen hatte, wie jeder in Stillwater vermutete, dann konnte selbst die Kirche ihm keinen Frieden bringen.
“Die Rache ist mein, spricht der Herr.”
Die verwirrten Gesichter der Gemeindemitglieder bestätigten Portenski, dass er diese Worte tatsächlich laut ausgesprochen hatte – und zwar inmitten eines überzeugenden Plädoyers für mildtätiges Handeln gegenüber bedürftigen Mitmenschen.
Er räusperte sich, um Zeit zu gewinnen und seine verirrten Gedanken zu sammeln. Dann versuchte er, die Scharte auszuwetzen, indem er seinen Zuhörern sagte, dass es nicht an ihnen sei, zu beurteilen, ob ein Bedürftiger seine Notlage verdiene oder nicht. “Wir dürfen uns nicht von den Bedürftigen abkehren. Denn sind wir vor Gott nicht alle Bettler?”
Einige Leute murmelten “Amen”. Portenski lächelte wohlwollend und fuhr mit seiner Predigt fort. Dabei vermied er es weiterhin, Clays durchdringendem Blick zu begegnen. In fünfzig Minuten würde er diesen Blick los sein, sagte er sich immer wieder. Und die Chancen standen gut, dass Clay sie nicht gleich nächste Woche mit
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