Totgeglaubt
gleich gewarnt …
Wo war nur ihr Telefon? Als es wieder klingelte, tastete sie unter ihrem Sitz herum. Dabei fragte sie sich, ob sie nicht besser ins elterliche Gästehaus ziehen sollte. Ihren Eltern würde das zwar nicht besonders gefallen, aber sie hätte dort eindeutig mehr Freiheit. Und Whitney könnte in den Nächten, in denen Allie arbeitete, nach wie vor bei ihren Großeltern schlafen.
Endlich zog sie ihr Handy unter dem Beifahrersitz hervor, aber nach einem Blick auf das Display legte sie es weg. Es war nicht ihr Bruder, es war ihr Vater. Wenn sie jetzt abnahm, würden sie sich nur anschreien.
Da Whitney wahrscheinlich schlief, hatte Allie es nicht eilig, nach Hause zu kommen. Sie beschloss, die nächsten zwei Stunden zu nutzen, um einige der Zeugen zu befragen, deren Aussagen sie in den Barker-Akten gelesen hatte. Es war Sonntag. Sicher waren die meisten von ihnen zu Hause.
Sie beschloss, mit Jed Fowler zu beginnen. Er war in der Nacht von Barkers Verschwinden auf der Farm gewesen. Letzten Sommer, während der letzten polizeilichen Ermittlungen, hatte er den Mord an Barker plötzlich gestanden. Und trotzdem hatte er nie wirklich zum Kreis der Verdächtigen gehört – außer vielleicht in den drei Minuten, die die Beamten brauchten, um festzustellen, dass sie das Skelett eines Hundes und nicht das eines Menschen ausgegraben hatten. Jed Fowler mochte seltsam sein, aber er hatte kein Motiv. Was hätte er sich von Barkers Tod versprechen sollen?
Da war die Chance schon größer, dass er damals etwas beobachtet und bislang verschwiegen hatte. Doch wenn dem so war, warum hatte er sich dann selbst des Mordes bezichtigt, anstatt auf den wahren Schuldigen zu zeigen? Nach allem, was sie in den Akten gelesen hatte, hatte Allie zumindest eine Vermutung.
Clay war in der Nähe der Kirchentür stehen geblieben und kämpfte mit seiner Wut über Chief McCormicks Auftritt. Am liebsten hätte er das Gebäude auf der Stelle verlassen – um es nie wieder zu betreten. Er wusste nicht einmal genau, warum er überhaupt gekommen war. Er brauchte weder Allie noch ihren Vater noch sonst jemanden. Aber mit Portenski wollte er vor seinem Abgang noch sprechen – falls dieser endlich registrierte, dass er hier stand und auf ihn wartete. Seit einigen Minuten schon räumte der Reverend eifrig auf, schob die Kirchenbänke hin und her und stellte die Gesangsbücher weg, so als hätte er Clay überhaupt nicht wahrgenommen.
Als Clay sich schließlich räusperte, blickte der Prediger auf und ließ einen schnellen Blick durch den Raum schweifen, offenbar erschrocken, dass sie beide alleine waren.
“Kann ich etwas für Sie tun, Mr. Montgomery?”, fragte er. Er hatte eine sanfte Stimme, die gut zu einem Mann seines Standes passte. Doch trotz Portenskis Freundlichkeit hatte Clay das unbestimmte Gefühl, dass der Reverend nur sehr ungern mit ihm sprach. Vor seinem Gespräch mit Grace hatte Clay Portenskis Zurückhaltung immer darauf zurückgeführt, dass der Reverend wohl den gängigen Vorurteilen glaubte und ihn und seine Mutter für Barkers Verschwinden verantwortlich machte. Und selbst wenn Portenski nicht restlos davon überzeugt war, so hatte Clay geglaubt, dann war er zumindest misstrauisch. Aber jetzt vermutete Clay, dass hinter seiner Reserviertheit womöglich etwas anderes steckte.
“Meine Schwester hat mir erzählt, dass Sie sie neulich angesprochen haben.”
Mit einem schnellen Zungenschlag befeuchtete Portenski seine Lippen.
“Ja, ich … ich wollte ihr gegenüber noch einmal beteuern, dass sie hier willkommen ist. Falls sie sich irgendwann entschließen sollte, herzukommen.”
Clay bemerkte die aufsteigende Röte im Gesicht seines Gesprächspartners. “Sie haben ihr auch gesagt, dass Gottes Zorn die Bösen bestrafen wird, stimmt’s?”
Der Reverend glättete die weißen Haarbüschel, die oberhalb seiner Ohren wuchsen. “Ich … äh … ja, das habe ich. Und es stimmt doch, oder etwa nicht?”
“Haben Sie mit dieser Bemerkung die Bestrafung meiner Schwester gemeint?”
Der Reverend riss die Augen auf. “Hat sie es so verstanden?”
“Wenn man bedenkt, was uns die meisten Einwohner dieser Stadt nachsagen, dann liegt das doch wohl nahe, oder?”
Portenski wedelte mit einer Hand vor seinem Oberkörper hin und her. “Das habe ich aber nicht gemeint! Ich wollte ihr nur sagen, dass Gott alles sieht und weiß und am Ende auch alles richten wird. Wir müssen nur an ihn glauben.”
“Das ist eine interessante
Weitere Kostenlose Bücher