Totgeglaubt
hatte sie nicht gerechnet. Zumal er sonst nicht gerade ein Mann überschwänglicher Worte war. “Irgendwann fahren wir hier mal wieder hin.”
Mit einer übertrieben ausladenden Geste hob er das Glas zu einem Toast. “Vorausgesetzt, ich habe noch ein paar Geheimnisse auf Lager, was?”
Sie grinste. “Na, Sie müssten mir schon etwas bieten, was mich auch interessiert.”
“Ich kann Billard spielen, erinnern Sie sich?”
“Und sollte ich mich je für einen 1950er Jaguar interessieren, weiß ich auch, an wen ich mich wenden kann.”
Er schüttelte den Kopf. “Na, Sie können einen ja aufbauen!”
Sie fuhr mit dem Finger über den Rand ihres Glases. “Ihr Ego wird es schon verkraften, wenn Ihnen mal eine Frau nicht ohnmächtig vor die Füße kippt.”
“
Ohnmächtig vor die Füße kippen?”
Er trank noch einen Schluck Wein. “Ich hätte nie gedacht, dass jemand, der so brav und anständig daherkommt wie Sie, so ein lockeres Mundwerk hat.”
“Brav und anständig?”, wiederholte sie. “Wie kommen Sie denn darauf?”
“Vielleicht wegen der Dienstmarke.”
“Nicht jeder, der eine Dienstmarke trägt, ist brav und anständig. Wie kommen Sie darauf, dass ich es bin?”
“Wahrscheinlich fing es mit den langen Röcken an, die Sie in der Highschool getragen haben. Und dann diese Art, wie Sie Ihre Bücher an die Brust gepresst haben und so zielbewusst in Richtung Klassenraum gestiefelt sind.”
“Daran erinnern Sie sich?”, fragte sie lachend. Sie wäre nie darauf gekommen, dass Clay überhaupt Notiz von ihr genommen hatte.
“Und nicht zu vergessen natürlich die Rede, die Sie bei der Abschlussfeier gehalten haben. Worum ging es da noch? ‘Auf die Fundamente der Vergangenheit aufbauen’?”
“Sie haben ja sogar den Titel noch im Kopf”, staunte sie.
“Die Rede wurde doch in der Zeitung abgedruckt. Es war eine verdammt gute Rede. Zumindest für diejenigen, die eine Vergangenheit haben, auf die sie aufbauen können.”
“Meine Eltern haben immer dafür gesorgt, dass ich bekam, was ich brauchte”, sagte sie. Sie war sich bewusst, dass er nicht so ein Glück gehabt hatte. Nach dem Verschwinden seines Stiefvaters war seine Mutter gezwungen gewesen, jeden Job anzunehmen, der sich ihr bot. Es kursierte damals das böse Gerücht, dass sie für einen Hungerlohn bereit war, alles zu tun. Tatsächlich blieb Irene Montgomery damals nichts anderes übrig. Niemand in Stillwater war bereit, der Frau etwas zu schenken, die mit dem Verschwinden des Reverends in Verbindung gebracht wurde. Nicht einmal halbwegs erträgliche Arbeitsbedingungen.
In der Schule sah man Clay mehrere Tage hintereinander in den gleichen Klamotten. Zu Mittag aß er nichts; dazu fehlte ihm das Geld. Er arbeitete auf der Farm wie seine Mutter, und dazu nahm er noch alle möglichen Gelegenheitsjobs an. An manchen Tagen war er in der Schule so müde, dass er sich kaum aufrecht halten konnte. Dabei kümmerte er sich immer liebevoll um seine Schwestern, auch um seine Stiefschwester Madeline. Und er wäre lieber gestorben, als zuzugeben, dass es ihm an irgendetwas mangelte.
Die meisten Kinder hatten ihm den harten Kerl damals abgekauft. Aber heute, als Erwachsene, erkannte Allie, was wirklich hinter der coolen und rebellischen Fassade steckte: die Opferbereitschaft und der Stolz eines einsamen Jungen, der viel zu früh erwachsen werden musste.
“Ihre Eltern sorgen sich um Sie”, sagte er. “Sie sollten auf sie hören.”
“Und mich von Ihnen fernhalten? Wollen Sie darauf hinaus?”, fragte sie rundheraus.
Sein Blick blieb an ihrem Dekolleté hängen. “Erst einmal.”
“Vielen Dank für die freundliche Warnung, aber wissen Sie was? Ich bin ein großes Mädchen. Ich kann ganz alleine denken.”
“Ein großes Mädchen?”, spöttelte er. “Das nun wohl nicht gerade.”
“Groß genug.”
“Wofür?”
“Für alles, wonach mir der Sinn steht.”
Sein Grinsen wurde breiter. Fand er sie etwa ähnlich putzig wie einen Welpen, der einen großen Hund ankläfft?
“Jetzt hören Sie mit diesem herablassenden Getue auf”, fuhr sie ihn gereizt an.
“Hey! Ich dachte, Sie wären tough.” Er hob seine Hände in gespielter Bestürzung, aber sein Grinsen war zu einem warmen Lächeln geworden, einem Lächeln, wie man es bei Clay Montgomery selten sah. Als ob er sich bestens amüsierte. Als ob er sie mochte.
“Sie sind bewaffnet, oder?”
Sie legte den Kopf schief. “Zwingen Sie mich nicht, auf Sie zu schießen.”
Er lachte
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