Totgeglaubt
auf die Bärchen-Tasse, die auf seinem Schreibtisch so furchtbar deplatziert wirkte. Abend für Abend hatte sie die Tasse letzte Woche in die Spüle gestellt, in der Hoffnung, ihr Vater würde sich am Morgen eine andere Tasse nehmen. Aber jedes Mal, wenn sie zur Arbeit kam, stand sie wieder neben seinem Tischkalender. Offensichtlich gehörte die Tasse ihm und war kein Allgemeingut wie das übrige Geschirr. Aber woher hatte er sie? Und warum hing er so an ihr?
Einerseits wünschte sich Allie Antworten auf diese Fragen. Andererseits wollte sie lieber doch nicht so genau Bescheid wissen. Es ging ihr auch so schon schlecht genug. Sie rutschte immer tiefer in ihrem Stuhl. Zwar musste sie zugeben, dass es besser war, endlich akzeptiert zu haben, dass zwischen ihr und Clay zu viele Geheimnisse standen – Geheimnisse, die
jede
Beziehung torpediert hätten, und erst recht eine, an der eine Polizistin beteiligt war. Aber seit letztem Freitag hatte sie nun einmal an wenig anderes gedacht als an ihr Wiedersehen. Nicht nur, weil er atemberaubend attraktiv war, sondern weil ihn das Leben zu einem einzigartigen, extrem vielschichtigen und interessanten Menschen geformt hatte. Nicht zu vergleichen mit ihrem oberflächlichen, eigennützigen Exmann.
Die Tür wurde aufgerissen, und Allie konnte sich eine Grimasse nicht verkneifen, als Hendricks hereingestiefelt kam. Sie hatte ihn vor einer Stunde auf Streife geschickt, und er war bereits zurück. Aber das überraschte sie nicht.
Nach einem flüchtigen Blick auf sie fragte er: “Stimmt was nicht?”
Die Frage erwischte Allie eiskalt. War es ihr so schlecht gelungen, ihre Gefühle zu verbergen? “Alles okay. Wieso?”
“Normalerweise sitzen Sie im Archiv und wühlen in den Barker-Akten, als würden Sie nach Gold schürfen. Erzählen Sie mir nicht, dass Sie schon aufgegeben haben.”
Ihr Widerwillen und Zögerlichkeit zu unterstellen, wäre passender.
Anfang der Woche war das noch anders gewesen: Madeline hatte wieder einmal unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass ihre Familie nichts mit dem Verschwinden des Reverends zu tun hatte. Und Allie wollte das Rätsel so schnell wie möglich lösen, schon um zu beweisen, dass Clay so unschuldig war, wie sie hoffte. Sie hatte sich vorgenommen, den Zweifel und das Misstrauen ein für alle Mal aus der Welt schaffen, damit er nichts mehr zu befürchten hätte.
Doch dann hatte sie begonnen, die Taschenbibel des Reverends zu studieren; Madeline hatte sie ihr kurz zuvor aufs Revier gebracht. Den handschriftlichen Notizen in der Bibel nach zu urteilen, war Barker von zwei Dingen besessen gewesen: von der Fleischeslust – und von seiner neuen Stieftochter. Allie war sich nicht sicher, ob diese beiden Dinge in seinem Kopf miteinander verknüpft waren. Aber wenn das so war, dann fanden sich in der Bibel einige beunruhigende Spuren. Und wenn Allie sich daranmachte, die Notizen zu einem plausiblen Szenario zusammenzusetzen, begann sie zu hoffen, dass Reverend Barker inzwischen in Alaska lebte, genau wie Lucas Montgomery. Oder an einem anderen abgelegenen Ort. Oder dass ein Fremder ihn umgebracht hatte.
Das war immerhin möglich. Aber in ihren pragmatischeren Momenten musste Allie zugeben, dass die Chancen dafür nicht sehr gut standen. Erfahrungsgemäß wurden Morde fast ausschließlich von Personen begangen, die das Opfer kannten – und meistens von jemandem, der am meisten vom Tod des Opfers profitierte.
Und im Fall Barker waren das eindeutig die Montgomerys.
“Ich lasse die Sache heute Nacht mal ruhen”, erklärte sie Hendricks. Sie konnte jetzt nicht über den Fall nachdenken. Sie war zu enttäuscht, dass sie Clay morgen Abend nicht sehen würde, auch wenn sie wusste, dass es das Vernünftigste war. Und sie machte sich zu viele Sorgen wegen ihres Vaters. Hatte er eine Affäre? Und wenn ja, mit wem?
Erneut ging die Tür auf, und Joe Vincelli marschierte herein. Beth Ann Cole hing an seinem Arm, was Allie nicht im Geringsten überraschte. Gestern hatte sie gegen Mitternacht im “Good Times” vorbeigeschaut, um sicherzugehen, dass es dort keine Prügeleien gab und niemand nach Hause gefahren werden musste. Beth Ann hatte sich auf der Tanzfläche an Joe gepresst und an seiner Zunge gelutscht. Ihre Darbietung war so widerlich gewesen, dass Allie die beiden fast wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet hätte.
Hätte sie es nur getan!
“Hallo Joe”, sagte sie. “Beth Ann. Was kann ich für Sie tun?”
“Wir sind nur
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