Totgeglaubt
schniefte. “Was soll ich nur tun?”
“Es gibt nur eines, was du tun kannst, Mom: Beende die Sache so schnell wie möglich! Und nutze deine Energie, um darüber hinwegzukommen.”
Eigentlich hatte Allie vorgehabt, zu schlafen, während Whitney in der Schule war, doch stattdessen starrte sie das Foto von Clay an. Auf ihrer Mailbox hatten sich etliche Nachrichten von Madeline angesammelt. Clays Stiefschwester wollte wieder einmal über den Fall sprechen und Allie für ihre Ermittlungen ein paar Ideen und Anhaltspunkte geben. Aber Allie hatte keine sonderliche Lust, mit ihr zu reden. Sie verlor gerade ihre Begeisterung für den Fall und wusste, dass es ihr schwerfallen würde, ihre Unlust zu verbergen. Zum ersten Mal in ihrem Leben fand sie, dass an dem alten Sprichwort von den schlafenden Hunden, die man nicht wecken sollte, etwas dran war.
Aber natürlich war es keine Lösung, den Rückruf aufzuschieben. Wieder klingelte ihr Handy und zeigte im Display den Namen von Clays Stiefschwester an. Und da sie wusste, dass Madeline es immer wieder versuchen würde, nahm sie schließlich ab. “Hallo?”
“Wie geht’s?”
“Gut, und dir?”
“Danke, alles okay.”
So hörte Madeline sich allerdings nicht an. Sie klang vielmehr so, als würde sie sich zwingen, freundlich zu sein, obwohl sie eigentlich schrecklich ungeduldig war. Sicher war sie genervt, weil Allie ihr immer noch keine Antworten geben konnte.
“Bist du mittlerweile durch die Akten durch?”
“Fast.”
“Steht noch was aus?”
Jedenfalls nichts, was Madeline hören wollte. Aber um das Schweigen zu beenden und den Eindruck zu erwecken, dass sie immer noch mit Elan bei der Sache war, erwähnte Allie, dass sie Jed befragt hatte.
“Und? Hat er irgendetwas Neues gesagt?”
“Nicht wirklich.”
Allie konnte Madelines Enttäuschung spüren, weshalb sie ihre nächste Frage sehr vorsichtig formulierte. Sie hatte keine Ahnung, ob das zerrissene Weihnachtsfeier-Programmheft in Jeds Wohnung etwas zu bedeuten hatte. Es war dem seltsamen Kauz zuzutrauen, dass er es aufbewahrte, nur weil Eliza dann und wann ein nettes Wort an ihn gerichtet hatte. Und für Maddy war ihre Mutter offenbar ein schwieriges Thema. “Weißt du, ob deine Mutter und Jed jemals befreundet waren?”, fragte sie und hob dabei ihre Stimme leicht an, um die Frage so beiläufig wie möglich klingen zu lassen.
“
Befreundet?
Das würde ich nicht unbedingt sagen. Aber als ich zehn war … als sie starb, da kannten sich die beiden vielleicht besser, als ich es damals wahrgenommen habe.”
“Du erinnerst dich aber nicht daran, dass er je bei Euch zu Hause war?”
“Nein … aber er hat uns einmal geholfen, als unser Auto stehen geblieben ist. Ich erinnere mich, dass er uns zu seiner Werkstatt abgeschleppt und mir einen Quarter für eine Pepsi geschenkt hat. Und dann hatte er irgendwann Scharlach und weigerte sich, ins Krankenhaus zu gehen. Meine Mutter hat ihn ein bisschen gepflegt, sodass er zu Hause bleiben konnte. Aber solche Sachen hat sie bei anderen Leuten auch gemacht … Warum fragst du?”
“Ich versuche nur herauszufinden, warum er seine Kirchenbesuche eingestellt hat. Ich frage mich, ob sie sich vielleicht zerstritten haben.”
“Ganz bestimmt nicht. Niemand hat sich je mit meiner Mutter zerstritten. Sie war …” Madeline schien zu merken, dass ihre Bewunderung für ihre Mutter diesmal den Zorn verdrängte, der sonst immer sofort die Oberhand bekam, sobald sie von ihr sprach. “Sie hatte keine Feinde”, beendete sie ihren Satz.
“Ja, das habe ich mir schon gedacht.”
“Mit wem wirst du als Nächstes sprechen?”, wollte Maddy wissen.
Allie hielt sich Clays Foto näher vors Gesicht. “Ich weiß nicht”, antwortete sie. “Ich habe mit Bonnie Ray geredet, aber sie hat nur das wiederholt, was bereits in den Akten steht. Und wir haben momentan ziemlich viel zu tun auf der Wache.”
Schweigen.
“Ich mache trotzdem eine Liste von Leuten, die ich noch interviewen werde, ja?”, fügte Allie hinzu.
Erneutes Schweigen. Es schien Allie, als hätte Madeline am liebsten nachgefragt,
wann
sie die Liste erstellen wolle, aber sie sagte nichts. “Fein. Okay. Ich weiß, dass es schwer ist, in der Sache voranzukommen.”
Besonders, wenn man nicht mit dem Herzen dabei ist.
Allie seufzte. “Das wär’s dann fürs Erste.”
“Allie?”
“Ja?”
“Sag mir, dass du nicht aufgeben wirst.”
Allie zuckte zusammen, als sie an ihr Rendezvous mit Clay dachte.
“Maddy
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