Totgeglaubte leben länger: 8. Fall mit Tempe Brennan
gewesen sein.«
»Ist wahrscheinlich nur geblieben wegen seiner Liebe zur architektonischen Selbstverwirklichung.«
»Du hast gesagt, dass Avram und Miriam keine Kinder hatten?«
Ryan nickte. »Sie haben erst spät geheiratet. Seine erste Frau hatte gesundheitliche Probleme. Starb neunundachtzig. Siebenundneunzig heiratete Ferris wieder. Bis jetzt kein Nachwuchs.«
»Ist das nicht gegen die Vorschriften?«
Ryan warf mir einen fragenden Blick zu.
»Das mitzvot. «
Der Blick blieb.
»Jüdisches Gesetz. Man muss Kinder haben. Darf seinen Samen nicht vergeuden.«
»Klingt eher wie aus dem Handbuch für den Farmer.«
Ryan und ich gingen zu der kleinen Vordertreppe.
Ryan stieg hinauf und drückte auf die oberste Klingel.
Wir warteten.
Ryan klingelte noch einmal.
Eine alte Frau trottete hinter uns den Bürgersteig entlang, und ihr Einkaufswagen ratterte im Rhythmus mit dem Klappern ihrer Stiefel.
»Muss die Witwe denn nicht zu Hause bleiben?«, fragte Ryan und drückte zum dritten Mal auf die Klingel.
» Shiva dauert nur eine Woche.«
»Und dann?«
»Und dann betet man täglich kaddish , feiert keine Feste und darf sich eine Weile weder rasieren noch die Haare schneiden. Aber im Wesentlichen macht man einfach mit seinem Leben weiter.«
»Woher weißt du das eigentlich alles?«
»Mein erster Jugendfreund war ein Jude.«
»Standen die Sterne gegen die Liebe?«
»Er zog nach Atlanta.«
Ryan öffnete die Sturmtür und hämmerte gegen das Holz.
Die Frau mit dem Einkaufswagen blieb stehen, drehte den Kopf und starrte uns über ihren dreimal gewickelten Schal hinweg unverfroren an.
Rechts bewegte sich ein Vorhang. Ich berührte Ryan am Arm und deutete mit dem Kopf. »Dora ist zu Hause.«
Ryan grinste breit.
»Avram war ein netter jüdischer Junge, der zwischen erster und zweiter Ehe acht Jahre vergehen ließ. Vielleicht standen er und Mama sich ja sehr nahe.«
»Vielleicht hat er ihr ein paar Sachen erzählt.«
»Oder Mama hat ein paar Sachen von sich aus bemerkt.«
Mir fiel etwas ein.
»Alte Damen mögen doch Plätzchen.«
»Sie sind berühmt dafür.«
Ich griff in meine Tasche und zog die Butterkekse heraus.
»Mama schließt uns vielleicht ins Herz und wird gesprächig.«
»O Mann.« Ryan drehte sich um. »Wir sind vielleicht gut.«
Nur war es nicht Dora, die uns die Tür öffnete. Es war Miriam. Sie trug eine schwarze Hose, eine schwarze Seidenbluse, eine schwarze Strickjacke und eine Perlenkette.
Wie schon bei unserer ersten Begegnung verblüfften mich Miriams Augen. Jetzt lagen sie tief in schwarzen Höhlen, aber das machte nichts. Diese lavendelfarbenen Iriden waren einfach ein Hingucker.
Miriam war sich der Wirkung ihrer Augen auf Männer durchaus bewusst. Nachdem sie mir nur einen kurzen Blick zugeworfen hatte, wandte sie sich Ryan zu und beugte sich leicht vor, den einen Arm vor dem Bauch, mit der anderen Hand die Strickjacke an der Kehle zusammenfassend.
»Detective.« Leise. Gehaucht.
»Guten Morgen, Mrs. Ferris«, sagte Ryan. »Ich hoffe, es geht Ihnen inzwischen besser.«
»Vielen Dank.«
Miriams Haut war gespenstisch bleich. Sie wirkte noch dünner, als ich sie in Erinnerung hatte.
»Es gibt da noch ein paar Punkte, die ich gerne klären würde«, sagte Ryan.
Miriams Blick wanderte zu einem Punkt zwischen und hinter uns. Der Einkaufskarren der alten Frau setzte sich wieder in Bewegung.
Miriam wandte den Blick nun erneut Ryan zu und legte den Kopf leicht schief.
»Kann das denn nicht warten?«
Ryan ließ die Frage in dem Dreieck zwischen uns hängen.
»Wer ist da?« Eine zitterige Stimme wehte aus der Tiefe der Wohnung.
Miriam drehte sich um und sagte etwas auf Jiddisch oder Hebräisch, und wandte sich dann wieder uns zu.
»Meiner Schwiegermutter geht es nicht gut.«
»Ihr Ehemann ist tot«, sagte Ryan nicht allzu sanft. »Ich kann eine Mordermittlung nicht hinauszögern, nur um die Hinterbliebenen zu schonen.«
»Ich lebe jeden Augenblick des Tages mit diesem Gedanken. Dann glauben Sie also, dass es Mord war?«
»Ich glaube, Sie ebenfalls. Versuchen Sie mir auszuweichen, Mrs. Ferris?«
»Nein.«
Lavendel und Blau trafen sich. Kein Augenpaar gab nach.
»Ich möchte Sie noch einmal nach einem Mann namens Kessler fragen.«
»Und ich sage es Ihnen noch einmal: Ich kenne ihn nicht.«
»Ihre Schwiegermutter vielleicht?«
»Nein.«
»Woher wissen Sie das, Mrs. Ferris? Kessler behauptete, ihren Gatten zu kennen. Haben Sie mit Ihrer Schwiegermutter über Kessler
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