Totgeglaubte leben länger: 8. Fall mit Tempe Brennan
überzogenen Sitzgarnitur in einem kleinen, sonnigen Wohnzimmer.
»Ich hole eine Vase. Bitte setzen Sie sich.«
Sie verschwand in einem Gang, der rechts von der Diele abging. Ich schaute mich um.
Das Wohnzimmer war ein Musterbeispiel für den schlechten Geschmack der Sechzigerjahre. Weiße Satin-Polsterbezüge. Tische aus Eichenlaminat. Strukturtapete. Goldfarbener Teppichboden.
Ein Dutzend Gerüche lagen im Wettstreit miteinander. Desinfektionsmittel. Knoblauch. Raumspray. Von irgendwoher meldete sich ein Schrank oder eine Kommode mit einem Hauch Zedernduft.
Dora kam zurückgeschlurft, und wir beide arrangierten ein paar Augenblicke lang Blumen.
Dann ließ sie sich in einen Schaukelstuhl mit angebundenen Kissen auf Sitz und Rückenlehne sinken, spreizte die Füße und strich sich das Kleid glatt. Blaue Turnschuhe lugten unter dem Saum hervor.
»Die Kinder sind mit Roslyn und Ruthie in der Synagoge.«
Ich nahm an, dass es sich um die beiden anderen Schwiegertöchter handelte.
Dora faltete ihr Hände im Schoß und schaute auf sie herab.
»Miriam musste noch einmal zum Fleischer, weil sie etwas liegen gelassen hat.«
Ryan und ich wechselten einen Blick. Er nickte mir zu, ich sollte den Anfang machen.
»Mrs. Ferris, ich weiß, dass Sie bereits mit Detective Ryan gesprochen haben.«
Die alterstrüben Augen schauten mich teilnahmslos an.
»Wir stören Sie nur sehr ungern noch einmal, aber wir haben uns gefragt, ob Ihnen seit diesen Gesprächen noch etwas eingefallen ist.«
Dora schüttelte langsam den Kopf.
»Hatte Ihr Sohn in den Wochen vor seinem Tod irgendwelche ungewöhnlichen Besucher?«
»Nein.«
»Hatte sich Ihr Sohn mit irgendjemandem gestritten? Sich über irgendjemanden beschwert?«
»Nein.«
»Engagierte er sich für irgendwelche politische Bewegungen?«
»Avrams Leben war seine Familie. Sein Geschäft und seine Familie.«
Ich wusste, dass ich nur die Fragen wiederholte, die Ryan schon gestellt hatte. Befragungsstrategie 101. Manchmal funktioniert der Trick und fordert zuvor vergessene Erinnerungen zutage oder Details, die anfangs als irrelevant betrachtet wurden.
Und es war ja auch das erste Mal, dass Dora allein befragt wurde.
»Hatte Ihr Sohn Feinde? Irgendjemand, der ihm hätte schaden wollen?«
»Wir sind Juden, Miss.«
»Ich dachte jetzt an eine spezielle Person.«
»Nein.«
»Kennen Sie die Männer, die bei der Autopsie anwesend waren?«
»Ja.« Dora zupfte sich am Ohrläppchen und machte in ihrer Kehle ein gurgelndes Geräusch.
»Wer hat diese Männer ausgesucht?«
»Der Rabbi.«
»Warum kamen am Nachmittag nur noch zwei Männer wieder?«
»Das war sicher die Entscheidung des Rabbis.«
»Kennen Sie einen Mann mit dem Namen Kessler?«
»Ich kannte einmal einen Moshe Kessler.«
»War er bei der Autopsie Ihres Sohnes anwesend?«
»Moshe fiel im Krieg.«
Gerade in diesem Augenblick musste mein Handy klingeln.
Ich schaute auf das Display. Privatnummer.
Ich ignorierte den Anruf.
»Wussten Sie, dass Ihr Sohn auch Antiquitäten verkaufte?«
»Avram hat viele Sachen verkauft.«
Mein Handy klingelte schon wieder.
Ich entschuldigte mich und schaltete es aus.
Instinkt. Frustration. Inspiration. Ein Name in meinem Kopf wie eine unwillkommene Melodie.
»Kennen Sie einen Mann mit dem Namen Yossi Lerner?«
Die Furchen an Doras Augenwinkeln wurden tiefer, die runzligen Lippen spitz.
»Sagt Ihnen dieser Name etwas, Mrs. Ferris?«
»Mein Sohn hatte einen Freund mit dem Namen Yossi Lerner.«
»Wirklich?« Ich gab mir Mühe, Miene und Stimme möglichst neutral zu halten.
»Avram und Yossi haben sich als Studenten an der McGill kennen gelernt.«
»Wann war das?« Ich schaute Ryan nicht an.
»Vor Jahren.«
»Blieben Sie in Kontakt?«
»Ich habe keine Ahnung. O Gott.« Dora atmete tief durch. »Ist Yossi in diese Geschichte verwickelt?«
»Natürlich nicht. Ich nenne nur einige Namen. Wissen Sie, wo Mr. Lerner jetzt lebt?«
»Ich habe Yossi seit Jahren nicht mehr gesehen.«
Die Haustür ging auf und schloss sich wieder. Sekunden später stand Miriam im Wohnzimmer.
Dora lächelte.
Miriam starrte uns an, so ausdruckslos, als würde sie Moos betrachten. Als sie dann etwas sagte, war es an Ryan gerichtet.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass es meiner Schwiegermutter nicht gut geht. Warum belästigen Sie sie?«
»Mir geht’s gu…«, setzte Dora an.
Miriam unterbrach sie.
»Sie ist vierundachtzig und hat eben erst ihren Sohn verloren.«
Dora ließ ein »Pst«
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