Totgeglaubte leben länger: 8. Fall mit Tempe Brennan
hören.
Wie zuvor schon, reagierte Ryan mit Schweigen und wartete darauf, dass sie weiterredete. Diesmal tat sie es nicht.
Dora übernahm.
»Ist schon gut. Wir führen eine recht nette Unterhaltung.« Dora wedelte mit einer blau geäderten Hand.
»Worüber unterhalten Sie sich?« Miriams Blick blieb auf Ryan gerichtet, als hätte Dora überhaupt nichts gesagt.
»Euripides«, sagte Ryan.
»Soll das vielleicht witzig sein, Detective?«
»Yossi Lerner.«
»Wer ist Yossi Lerner?«
»Ein Freund Ihres Gatten.«
»Ich kenne ihn nicht.«
»Ein Freund aus Studienzeiten.«
»Das war vor meiner Zeit.«
Ich schaute Dora an. Der Blick der alten Frau war verschwommen geworden, als würde sie in Erinnerungen weit außerhalb dieses Wohnzimmers schwelgen.
»Warum fragen Sie nach diesem Mann? Diesem Yossi Lerner?« Miriam zog ihre Handschuhe aus.
»Sein Name tauchte auf.«
»Bei Ihren Ermittlungen?« Die lavendelfarbenen Augen zeigten einen winzigen Funken Überraschung.
»Ja.«
»In welchem Zusammenhang?«
Von draußen kam das Piep-piep einer Auto-Alarmanlage. Dora zuckte mit keiner Wimper.
Ryan erzählte Miriam von Kessler und seinem Foto.
Miriams Gesicht blieb ausdruckslos, während sie zuhörte. Es war nicht festzustellen, welches Interesse oder welche Gefühle sie hatte.
»Gibt es eine Verbindung zwischen diesem Skelett und dem Tod meines Mannes?«
»Mit oder ohne Weichspüler?«
»Ohne.«
Ryan zählte die einzelnen Punkte an seinen Fingern ab.
»Ein Mann wird ermordet. Ein Kerl zieht ein Foto aus der Tasche und behauptet, das Foto sei der Grund für den Tod dieses Mannes. Und jetzt ist der Kerl verschwunden.«
Ryan streckte den kleinen Finger hoch.
»Es gibt Hinweise, dass das Foto aus Masada kam.«
Daumen.
»Das Opfer handelte mit israelischen Antiquitäten.«
Ryan fing mit seinem Zeigefinger wieder an.
»Das Skelett war früher einmal in den Händen eines gewissen Yossi Lerner. Das Opfer war der Freund eines gewissen Yossi Lerner.«
»Der andere war ein Priester.«
Wir alle wandten uns Dora zu.
Sie sprach zu niemand im Besonderen.
»Der andere Junge war ein Priester«, wiederholte sie. »Aber der kam erst später? Oder nicht?«
»Was für ein anderer Junge?«, fragte ich behutsam.
»Avram hatte zwei Freunde. Yossi, und dann später diesen anderen Jungen.« Dora klopfte sich mit der Faust ans Kinn. »Er war ein Priester. Ganz sicher.«
Miriam ging zu ihrer Schwiegermutter, berührte sie aber nicht.
Das erinnerte mich an die Szene im Familienzimmer der Leichenhalle. Die Frauen hatten dicht nebeneinander gesessen, aber ohne Körperkontakt. Sie hatten sich nicht berührt. Sie hatten sich nicht umarmt. Die Jüngere hatte ihre Kraft nicht mit der Älteren geteilt. Die Ältere hatte nicht bei der Jüngeren Trost gesucht.
»Sie standen sich sehr nahe«, fuhr Dora fort.
»Ihr Sohn und seine Freunde?«
Dora lächelte nun das erste aufrichtige Lächeln, das ich je auf ihrem Gesicht gesehen hatte. »Sie waren ja so wissbegierig, die drei. Immer am Lesen. Immer am Hinterfragen. Und ihre Diskussionen. Nächtelang manchmal.«
»Wie hieß der Priester?«, fragte ich.
Dora schüttelte knapp den Kopf.
»Er war aus der Beauce-Gegend. Das weiß ich noch. Er nannte uns zayde und bubbe. «
»Wo lernte Ihr Sohn diesen Priester kennen?«
»Yeshiva University.«
»In New York?«
Dora nickte. »Avram und Yossi hatten gerade ihren Abschluss an der McGill gemacht. Damals war Avram noch viel spiritueller. Er wollte eigentlich Rabbi werden. Dieser Priester hatte Kurse über die Religionen des Nahen Ostens belegt oder so was in der Richtung. Ich schätze, sie fühlten sich zueinander hingezogen, weil sie die beiden einzigen Kanadier waren.«
Doras Blick ging wieder ins Leere.
»War er damals schon Priester?«, fragte sie, eher sich selbst als uns. »Oder wurde er erst später Priester?« Dora verkrampfte die Finger. Ihre Hand zitterte. »O Gott. Oje.«
Miriam trat einen Schritt auf Ryan zu.
»Detective, ich muss protestieren.«
Ryan schaute mich kurz an. Wir standen beide auf.
Miriam entließ Ryan mit einer Kopie ihrer vorherigen Abschiedsfloskel.
»Finden Sie den Schuldigen, Detective, aber bitte regen Sie meine Schwiegermutter nicht auf, wenn sie alleine ist.«
»Erstens erschien sie mir weniger aufgeregt als in Erinnerungen versunken. Zweitens kann ich mir in meinen Ermittlungen keine derartigen Beschränkungen auferlegen lassen. Aber wir werden uns um Freundlichkeit bemühen.«
An mich kein
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