Totgelebt (German Edition)
und sagte „Gute Nacht, schlaf schön und träum von mir.“ Sie schien ihr nicht mehr böse zu sein. Wieder fiel Paula auf, dass sie Annes Nähe schmerzlich vermisste, sie wollte sie einfach im Bett umschlingen, fühlen, spüren, schmecken. All das Ungesagte, Unausgesprochene für immer aus der Welt schaffen und eine neue Leichtigkeit in ihre Beziehung bringen. Sie liebte Anne, dessen war sie sich sicher. Stand sie sich wirklich immer selbst im Weg? Sie dachte darüber nach und konnte nicht schlafen. Immer tiefer verlor sie sich in ihre n Gedanken. Immer verzweifelter und verworrener waren ihre Gedankengänge. Mein Gott, ich werde verrückt und depressiv. Plötzlich waren ihre Gedanken bei Lotte. Was hatte dieses junge Mädchen nur dazu getrieben, ihrem Leben ein Ende zu setzen? Vermutlich waren es ganz banale, alltägliche Dinge, die mir auch ganz vertraut sind: Eifersucht, Einsamkeit, Depression en . Warum hatte sich Lotte in i hrer Verzweiflung denn bloß keine Hilfe gesucht? An wen hätte sie sich wenden können? An ihre Mutter? Eine frustrierte, verhärmte Alkoholikerin, völlig mit sich selbst überfordert. An ihren Bruder? Desinteressiert am Leben seiner Schwester. Vielleicht an eine Beratungsstelle. Aber was, wenn sie sich gar nicht helfen lassen wollte? Wenn sie wirklich sterben wollte, wenn ihre Entscheidung unumstößlich feststand, an wen wendet sie sich dann? Sie muss eine Waffe besorgen. Es gab jemandem, der ihr aktiv bei der Planung des Selbstmordes geholfen hat. Anders kann es nicht sein, diese Person wird ihr auch die Waffe besorgt haben. Mit wirren Gedanken im Kopf fiel Paula in einen leichten, unruhigen Schlaf. Sie träumte wild, stöhnte im Schlaf, so dass Anne im Schlaf ihre Hand suchte, um sie zu beruhigen. Augenblicklich entspannte sich Paula und wurde etwas ruhiger.
6. Kapitel
Der Junge betrat das Internet-Cafe. Sein Blick auf die Uhr verriet, dass er in Eile war. Seine Uhr sagte ihm, dass er genau zehn Minuten zu spät dran war. Schnell ging er zur Kasse und bezahlte dafür, in einem abgedunkelten Hinterraum einen Internet-Terminal nutzen zu können. Für eine Stunde hatte sich der Junge Zugang zum Internet gesichert. Eine Stunde, die Sicherheit, Geborgenheit und vor allem Verständnis bedeuteten. Er war verabredet, da war jemand, der hörte ihm zu, nur ihm. Dieser jemand zeigte ihm, dass er etwas ganz Besonderes war, dass er nicht so minderwertig war, wie ihn immer alle glauben machten. Dieser jemand wartete auf ihn, ihn interessiert e seine elende Geschichte, all das, was sonst niemand hören wollte. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie einen Freund gehabt, früher hatte er seinem Hund Charly seine Geschichten erzählt, Charly hatte zugehört, er hatte ihn verstanden, er hatte sein Gesicht geleckt, ihn aufgemuntert, gezeigt, ich höre dir zu, ich gehöre zu dir. Nur sein Hund hatte ihm das Gefühl gegeben, irgendwohin zu gehören. Seine Eltern waren früh bei einem Verkehrunfall ums Leben gekommen, er war im Heim aufgewachsen. Nie hatte ihn eine Person ausgesucht, um in ein neues zu Hause abzuholen, ausgewählt wurden immer nur die anderen. Er hatte sich immer weinerlich in eine Ecke zurück gezogen. Wenn es hieß, das hier ist Leon, hatten sich alle abgewandt, mit einem Blick der Bände sprach. Er hatte das immer genau gesehen, die anderen hielten ihn für dumm. Aber er bekam das genau mit. Doch nun hatte ausgerechnet ihn jemand ausgewählt, er wollte nur seine Geschichte hören und mehr noch, er versprach, ihm zu helfen. Er hatte schon alles erlebt, ihm konnte so leicht niemand etwas vormachen, er war vorsichtig geworden, obwohl ihm eigentlich schon alles egal war. Er hatte nichts mehr zu verlieren, er wollte sterben, das stand für ihn fest. Er stellte sich vor, dass es doch einen Ort geben musste, an dem es ihm einfach besser ging, an dem auch er leben durfte, an dem es schöner war. An dem er ein akzeptierter Teil einer großen Gemeinschaft war. An dem er nicht geschlagen wurde, an dem er nicht misshandelt und gedemütigt wurde, an dem er seinen Hund wieder sehen konnte, an dem er vielleicht sogar seine Eltern wieder sehen würde. Davon träumte er. Er stellte sich vor, dass seine Eltern mit Charly an der Leine auf ihn warten und ihn in die Arme schließen würden. Ein Gefühl von Wärme umgab ihn bei dem Gedanken. Dann wären sie eins, so wie es ursprünglich auch sein sollte. Er konnte seinen eigenen Anblick im Spiegel nicht mehr ertragen. Er verdeckte immer seinen
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