Totgesagt
Doppeltür, durch die wir traten. Dahinter befand sich ein dreieckiger Vorraum mit zwei weiteren Türen. Die linke hatte ein Glasfenster und eine Aufschrift: ARZT, hinter der offenbar eine Krankenstation lag, denn ich sah weißgetünchte Wände, einen Zahnarztstuhl, eine Konsole mit Schaltern und Steckern am Kopfende eines Bettes, eine Sauerstoffflasche und einen Rollwagen wie den, den Legion benutzt hatte, auf dem Skalpelle, Meißel, Schneidewerkzeuge und Klemmen lagen. Die rechte Tür hatte keine Aufschrift, aber ebenfalls ein Glasfenster – hinter dem es fast dunkel war, abgesehen von einer Neonröhre, deren mattes, cremefarbenes Licht die Schwärze notdürftig aufhellte.
Alex trat durch die rechte Tür, hinter der sich ein weiterer Gang anschloss. Außer der Neonröhre, die ich bereits durch das Fenster bemerkt hatte, entdeckte ich nun zwei weitere, jeweils in Abständen von rund zehn Metern. Sie summten leise über unseren Köpfen. Dieser Gang war kürzer als der vorherige. An den Seiten befanden sich je zwei Türen; eine weitere, ganz am Ende, stand offen. Stufen führten nach oben, und am Ende dieser Stufen leuchtete ein Rechteck aus Licht.
Plötzlich tauchten in diesem Licht mehrere Silhouetten auf.
Alex zerrte mich vorwärts und schob mich durch die erste Tür auf der rechten Seite. Der Raum entsprach dem, den ich zuvor gesehen hatte: zwei Etagenbetten, dazu ein Tisch. An der Innenseite der Tür hingen zwei Sweatshirts mit Kapuze, außerdem zwei Trainingshosen. Auf dem Boden standen zwei Paar Hausschuhe.
»Ziehen Sie die Sachen an«, sagte er leise und legte einen Finger an die Lippen, während draußen vor der Tür Stimmen an- und abschwollen. Alex schaute auf seine Armbanduhr,
dann setzte er mich auf eines der Betten und reichte mir ein Sweatshirt. »Das werden Sie brauchen. Draußen friert es.«
Ich musterte ihn. Er wirkte unglaublich konzentriert, entschlossen, ganz anders als der Mensch, den ich mir vorgestellt hatte. Vielleicht veränderte sich die Persönlichkeit, wenn man so lange auf der Flucht war.
Er schaute auf meine rechte Hand.
»Soll ich Ihnen beim Anziehen helfen?«
Ich schüttelte den Kopf und nahm das Sweatshirt. Als ich die Arme hob, brannten die Peitschennarben, als hätte man Alkohol in meine Wunden gegossen. Ich schob die Hände durch die Ärmel und zog mir das Kleidungsstück über den Kopf. Oberhalb der Plastikfolie, wo noch offene Wunden waren – tiefe, dunkle Risse im Fleisch -, spürte ich, wie das Sweatshirt kleben blieb.
Er zog sich das zweite Sweatshirt über und nahm beide Trainingshosen von ihrem Nagel. Ich betrachtete meine Boxershorts. Meine Beine. Das Peitschenmal auf meinem Oberschenkel begann sich zu verfärben.
»Diese Klamotten tragen alle hier«, erklärte er, verstummte aber schnell, weil draußen wieder Stimmen zu hören waren. Als sie sich entfernt hatten, wandte er sich zu mir um und schaute auf die Uhr. »In sechzig Sekunden wird die Alarmanlage wieder losgehen. Sobald es so weit ist, hauen wir ab. Haben Sie das verstanden?«
Ich nickte.
Er zog seine Trainingshose an und sah zu, wie ich dasselbe tat – mit den langsamen, zittrigen Bewegungen eines alten Mannes. Als ich fertig war, schob er die Hausschuhe über den Boden. Ihr Futter war weich wie Pelz und fühlte sich gut auf meiner Haut an. An den Zehen und auf den Fußrücken waren die Schnitte und Verletzungen von meiner Flucht im Wald noch nicht verheilt.
Er öffnete die Tür einen Spalt weit und schaute hindurch. Dann öffnete er sie noch ein wenig mehr und spähte in beide Richtungen. Noch einmal schaute er zur Uhr.
»Noch fünf Sekunden«, sagte er.
Dann brach der Alarm los. Diesmal klang er anders: ein langgezogenes Heulen statt der kurzen, abgehackten Huptöne zuvor.
»Gut«, sagte er und packte mein Handgelenk. »Auf geht’s!«
Wir traten hinaus in den Gang und gingen auf die Stufen zu. Dabei schob er mir die Kapuze des Sweatshirts über den Kopf und zog auch seine hoch. Vor der untersten Stufe schaute ich auf. In dem Rechteck aus Licht tauchten Umrisse auf: drei Menschen, gekleidet wie wir, kamen uns entgegen. Sie alle warfen uns im Vorbeigehen Blicke zu. Ihre Augen glänzten, als sie sich zu erinnern versuchten, wer wir waren und in welchem Teil der Farm sie uns schon begegnet waren. Ich schaute über die Schulter zurück und sah, dass ein Mädchen auf der Treppe stehen blieb. Ihre Blicke folgten Alex, als wir nach oben gingen.
»Alex …«
»Gehen Sie einfach weiter.«
»Sie
Weitere Kostenlose Bücher