Totgesagt
erkennt dich.«
»Sie erkennt mich wieder.«
»Das sage ich doch.«
»Nein«, erwiderte er. »Das sind zwei verschiedene Dinge. Sie erkennt mich wieder, aber sie weiß nicht mehr, wer ich bin.«
Als wir die letzten Stufen erreicht hatten, entdeckte ich im diesigen, grauen Licht draußen die Seitenwand von Bethany: das wie ein »A« geformte Dach, darunter das Badezimmerfenster und noch weiter unten die Blumenbeete. Vor den Beeten standen Leute, ebenfalls gekleidet wie wir,
und gruben. Es waren zehn, vielleicht zwölf. Ich hörte das Meer, sah die Felder voll Heidekraut, die bis zum Strand hinunterreichten.
»Sind wir im Lazarus?«, fragte ich.
Alex war ein Stück hinter mir, tiefer im Schatten.
»Ja«, erwiderte er, »zum Teil jedenfalls. Das Haus selbst ist neu. Der unterirdische Teil nicht. In den Fünfzigerjahren war hier ein Trainingsgelände der Armee. Darauf wurde das Farmhaus errichtet.«
Ich sah zu den grabenden Menschen hinüber.
»Was tun sie da?«
»Sie graben die Erde um.«
»Warum folgen sie nicht den anderen, die uns eben entgegengekommen sind?«
»Ich weiß es nicht. Aber wir haben keine Zeit, es herauszufinden.« Er tauchte jetzt neben mir auf und schaute zur Uhr. »Gut. Der erste Alarm wurde ausgelöst, weil ich die Schlösser vom Roten Zimmer aufgebrochen habe.«
»Vom Roten Zimmer?«
»Wo wir alle Erinnerungen aufbewahren.« Er wandte mir das Gesicht zu. »Dort sind all Ihre Sachen: Ihre Pistole, Ihre Geldbörse, die Patrone, die Fotos von Ihrer Frau. Ihr Ehering. Ich hab die Schlösser aufgebrochen, bevor ich zu Ihnen runtergekommen bin. Das war ein Ablenkungsmanöver.«
»Und dieser Alarm jetzt?«
»Das war der Lageralarm. Er geht los, sobald die Tür zum Calvary länger als fünf Minuten offen steht.«
»Was bedeutet Calvary?«
»Auf dem Kalvarienberg wurde Jesus gekreuzigt«, erklärte er. »Hier auf dem Gelände ist es die Bezeichnung für den Kreuzigungsraum.«
The Calvary Project. So hatten sie die Tarnfirma genannt,
durch die all ihr Geld geschleust wurde. Jetzt ergab der Name einen Sinn.
Wieder schaute er zu den grabenden jungen Leuten hinüber, von denen einige in unsere Richtung blickten. Eine Armee von Gesichtern am Ende ihrer Teenagerzeit oder Anfang zwanzig, deren Aufmerksamkeit zwischen uns hin und her wanderte.
»Folgen Sie mir«, sagte er.
Wir hielten uns nach links und traten aus der Dunkelheit hinaus ins Licht. Es war eiskalt, und immer noch lag Schnee. Es musste spät am Nachmittag sein, denn die Sonne hatte zu sinken begonnen und verschwand nun langsam hinter dichten weißen Wolken.
Der Ausgang des kasernenähnlichen Gebäudes war in den seitlichen Anbau von Lazarus integriert. Wir kamen an einem verdunkelten Fenster vorbei. Und an einem zweiten. Schließlich erreichten wir eine rote Tür an der Rückseite des Gebäudes, von der aus man einen direkten Blick aufs Meer hatte. Daneben befand sich ein kleiner Carport. Die Zufahrt wand sich an der Seite des Farmhauses entlang und stieß in der Nähe von Bethany auf den Hauptweg. Im Carport standen ein Shogun und ein Ford Ranger.
Alex hatte die Tür zum Roten Zimmer mit einem Meißel aufgehebelt. Das Schloss hing seitlich aus der angelehnten Tür heraus, die sich in der vom Meer herüberwehenden Brise leicht bewegte. Drinnen befand sich ein kleiner Lagerraum mit einer Grundfläche von ungefähr drei mal drei Metern. An dreien der blassroten Wände zogen sich Regale vom Boden bis zur Decke. Auf den Brettern standen dicht an dicht lange Reihen von Schuhkartons, die fast die ganze Regalfläche beanspruchten. Auf die Seiten der Kartons waren zahllose Nachnamen gekritzelt. Einige davon erkannte ich wieder – Myzwik, O’Connell, Towne -, die meisten allerdings
sagten mir nichts. Ich nahm Alex’ Karton herunter und schaute hinein.
»Da ist nichts drin«, sagte er.
»Wieso nicht?«
»Ich hatte nichts dabei, als ich zurückkam.«
»Zurück? Zurück von wo?«
Durch einen schmalen Schlitz in der Tür schaute er hinaus. »Ich werde es Ihnen erzählen, aber nicht jetzt. Wir haben keine Zeit. Nehmen Sie Ihre Sachen.«
Ich suchte nach meinen Habseligkeiten. Dabei entdeckte ich ein Stück weiter auf dem mittleren Regal einen Karton mit dem Namen MITCHELL. Ich trat dichter heran. Unter dem Nachnamen stand noch ein Vorname: Simon. Simon Mitchell. Alex’ Freund , der laut Cary ebenfalls verschwunden und nie wieder aufgetaucht war.
»Ist das dein Freund Simon?«
Er nickte.
»Er war auch hier?«
Von draußen war ein
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