Totgesagt
seine Kleidung. Er wirft einen Blick auf den Tacho. Sie beschleunigen immer weiter. Neunzig. Hundertfünf. Hundertzwanzig. Er versucht, sich zu bewegen. Vergeblich. Er schaut hinunter. Seine Arme und sein Körper sind an den Sitz gefesselt.
Plötzlich tauchen Scheinwerfer vor ihm auf.
Dann pfeift etwas. Er hört das kurze, schleifende Geräusch von Metall auf Metall, als würde etwas ausgehakt.
Bremsen quietschen. Dann schert der Wagen vor ihm nach links aus, das Abschleppseil löst sich, fällt auf den Asphalt und verschwindet unter dem Wagen.
Eine Hupe heult auf.
Verzweifelt versucht Simon, auf die Bremse zu treten. Der Innenraum des Toyotas ist in das Scheinwerferlicht des Lastwagens getaucht. Doch seine Beine erreichen die Bremse nicht. Er kann sich keinen Zentimeter bewegen. Und dann herrscht nur noch Dunkelheit.
Alex hielt in einer Parkbucht an einem Bahnhof einen guten Kilometer von meinem Haus entfernt. Ich gab ihm das Geld für ein Ticket und noch etwas, damit er gehen konnte, wohin er wollte. Dann stieg er aus und schüttelte mir die rechte Hand.
Zum ersten Mal sah ich die Narben an seinen Fingern.
»Es ist elf Uhr, Alex«, sagte ich.
»Ich weiß.«
»Warum übernachtest du nicht bei mir?«
»Ich bin immer noch auf der Flucht«, sagte er. »Je weniger Zeit Sie mit mir verbringen und je weniger Sie darüber wissen, wo ich mich aufhalte, desto besser für Sie.«
Ehe er ging, drehte er sich noch einmal um. Er steckte den Kopf in den Wagen und starrte mich einen Moment an.
»Wissen Sie, was das Letzte ist, das man hört?«
Ich schaute ihn an.
»Das Letzte wovor?«
»Bevor man stirbt.«
Ich wusste es. Ich hatte es selbst gehört, als ich an dem Kreuz gehangen hatte.
»Als Letztes hört man das Meer«, sagte Alex und nickte dabei, als wäre ihm klar, dass ich ihn verstand. »Brechende Wellen. Sand, der fortgespült wird. Kreischende Möwen.
Hunde, die am Strand entlangrennen. Wenn es wirklich das Letzte ist, das ich im Leben höre, habe ich kein Problem damit. Ich liebe diese Geräusche. Und wissen Sie, warum?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Sie erinnern mich daran, wie ich in einer Bucht in Carcondrock im Sand gesessen habe, mit dem Menschen, den ich liebte.«
Dann drehte er sich um und verschwand in der Menge.
48
Ich wollte nicht nach Hause, also übernachtete ich in einem Motel gegenüber dem Bahnhof. Die Frau an der Rezeption schaute ein paarmal auf. Sie sah die getrockneten Schnitte an meinen Wangen, die purpur und schwarz gefärbten Schwellungen an meinem Kopf, doch sie sagte nichts. Als ich in mein Zimmer humpelte, entdeckte ich ihr Spiegelbild in einer schmalen Glasscheibe neben dem Aufzug. Sie schaute mir immer noch nach. Ich war völlig erschöpft und von einem dumpfen Schmerz durchdrungen, doch die Plastikfolie hatte einen Teil der Schmerzen gemildert. Die Verletzungen mitten im Gesicht allerdings waren kaum zu verbergen.
Mein Zimmer war winzig und schlicht eingerichtet, aber sauber. Ich stellte meine Sporttasche aufs Bett und ließ mich für eine Weile auf der Kante der Matratze nieder. Ich atmete ein und aus und versuchte, mich zu entspannen. Doch je mehr es mit der Entspannung funktionierte, desto schlechter begann ich mich zu fühlen – als würde mit sinkendem Adrenalinspiegel die schützende Taubheit immer weiter schwinden. Ich stand auf und ging ins Bad. Kurz vor dem Bahnhof hatte Alex an einer Apotheke gehalten, damit ich ein paar Medikamente und Verbandszeug besorgen konnte.
Der Geruch der Bandagen, der antiseptischen Creme und der von den Verbänden befreiten Wunden riefen mir plötzlich Derryns Jahre als Krankenschwester ins Gedächtnis. Dann tauchte eine besondere Erinnerung auf: Derryn, die mein Gesicht versorgte, drei Wochen, nachdem sie nach Südafrika gekommen war, um in meiner Nähe zu sein. Bei der verzweifelten Flucht vor einer Schießerei in Soweto war ich gegen eine Mauer geprallt.
»Heute ist es ein antiseptisches Pflaster«, sagte sie und klebte es über eine Wunde an meinem Auge. »Ich will nicht, dass du morgen einen Sarg brauchst.«
Ich stellte mich vor den Spiegel und untersuchte meine Zähne. Es fühlte sich an, als hätte ich ein fremdes Gebiss im Mund. Beim Atmen pfiff die Luft durch neu entstandene Zwischenräume. Und die ganze Zeit über pochte der Schmerz in meinem Zahnfleisch.
Mein Blick fiel auf meine frisch verbundenen Finger und schließlich auf meinen Rumpf. Immer noch war ich in Plastikfolie gewickelt. An den Seiten hatte sich Blut
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